Unter dem Begriff „Digitale Souveränität“ versuchen gerade Verwaltungen in Deutschland und Europa weg von Microsoft zu kommen. Die Alternative ist in der Regel Open-Source-Software. Doch ganz sicher wird in der Diskussion irgendjemand an das historische Trauma der deutschen Verwaltung erinnern: LiMux!
„Aber München hat das schon ausprobiert. Die sind zu Microsoft zurückgekehrt. Lernt die Verwaltung denn gar nichts,“ heißt es dann. „Aber München…“ ist zum Todschlagargument geworden.
„Als Totschlagargument oder Killerphrase bezeichnet man umgangs- und pressesprachlich ein Scheinargument, das anstelle eines Argumentum ad veritatem vorgebracht wird, um die Aufmerksamkeit des Diskussionsgegners bzw. des Publikums vom Kern des Themas auf einen irrelevanten Nebenaspekt abzulenken. Es erscheint im Gewand der apodiktischen Aussage, dass das vom Diskussionsgegner Behauptete bzw. Geforderte ganz und gar indiskutabel sei.“ – Wikipedia
Wer „Aber München…“ sagt, muss nichts erklären. Dann ist es schon falsch darüber nachzudenken, ob es gute Gründe gibt, sich von Microsoft befreien zu wollen. Dann muss man gar nicht erst die Frage stellen, warum man in München wieder zu Microsoft zurückgekehrt ist. Dann muss muss auch nicht darüber nachdenken, was man aus München lernen könnte.
Was wäre wenn?
Wäre es nicht super, wenn alle einfach ihre Bedenken aufgeben würden und sich in den warmen Schoß von Microsoft fallen ließen? Wenn Verwaltungen, Unternehmen, Organisationen und Privatleute einfach alle in der selben, wunderbaren Cloud arbeiten würden?
Und wenn das nicht nur Deutschland machen würde, sondern jede Regierung auf der Welt? Jede Firma? Jede Organisation? Alle bei Microsoft 365! Was könnte schiefgehen?
Es ist doch nun einmal das beste, was es auf dem Markt gibt. Warum sollte man etwas Schlechteres nutzen müssen?
Moment! Markt? Es gibt keinen Markt für Bürosoftware. Schon jetzt nutzen 85 % der Unternehmen in Deutschland das Office von Microsoft. 9 % nutzen das Pendant von Google. Bei den Betriebssystemen in Verwaltungen und Unternehmen sieht es noch monotoner aus.
Nutzungsbedingungen
Dabei weiß man nicht einmal ganz genau, was Microsoft mit den Daten macht, die man da so hochlädt. Mozilla hat neun Fachleute aus Justiz, Datenschutz und Netz-Aktivismus gebeten, sich die Nutzungsbedingungen von Microsoft anzuschauen, um herauszufinden, ob Microsoft sich das Recht einräumt, mit den Verwaltungs- und Unternehmensdaten seine „Künstliche Intelligenz“ zu trainieren.
Die Fachleute waren nicht in der Lage, das eindeutig festzustellen.
Datenschutz
Microsoft kann oder will nicht so genau sagen, was das Unternehmen mit all den Daten macht, die bei der Nutzung der Software entstehen. Immerhin funken Betriebssystem und Anwendungen jede Menge Verhaltensdaten nach Hause. Wer arbeitet wo, wie lange mit welcher Software? Welche Inhalte werden dabei bearbeitet usw.
Das ist ein Verstoß gegen die Rechenschaftspflicht laut DSGVO. Microsoft könnte die Daten zu eigenen Zwecken nutzen. Das sorgt dafür, dass man die Microsoft-Produkte in der öffentlichen Verwaltung nicht legal einsetzen kann. Das hat die AG „Microsoft-Onlinedienste“ der Datenschutzkonferenz festgestellt und betont, dass das insbesondere für Schulen gilt.
Kürzlich hat der EU-Datenschutz das Gleiche für die EU-Kommission festgestellt. Die habe rechtswidrig Daten an Microsoft übermittelt. Auch in der EU-Kommission muss man sich jetzt Gedanken über Alternativen machen.
Eine einzelne Fehlerstelle
Was es bedeutet, wenn Microsoft 365 mal ausfällt, haben wir im letzten Jahr erfahren. Da konnten weltweit Verwaltungen, Unternehmen und Organisationen nicht mehr auf ihre Daten zugreifen. Der Grund: ein fehlerhaftes Update! Natürlich gibt es auch in anderen Rechenzentren mal Ausfälle. Vielleicht sogar häufiger. Aber eben nicht gleichzeitig für alle.
Wir hatten in den letzten Jahren immer mal wieder Verwaltungen, die vom Netz gingen, weil ihre IT gehackt wurde oder mit Ransomware blockiert war. Das ist schon im Einzelfall katastrophal. Aber es bleibt regional beschränkt.
IT-Sicherheit
Im letzten Jahr wurde ebenfalls bekannt, dass Microsoft sich die Hauptschlüssel für seine Server-Infrastruktur hat klauen lassen. Von chinesischen Hackern. Die US-Behörde für die Sicherheit in der IT hat Microsoft nach einer Untersuchung des Falls ein verheerendes Zeugnis ausgestellt: „Eine Kaskade von vermeidbaren Fehlern“. Ob die chinesischen Hacker immer noch im System sind, weiß man nicht. Den Hack hat übrigens nicht Microsoft, sondern ein Kunde bemerkt.
Außerdem wurde gerade bekannt, dass auch staatliche, russische Hacker in Microsofts Systemen waren. Das hat Microsoft auch nicht selbst bemerkt, sondern die NSA. Und öffentlich gemacht hat es auch nicht Microsoft. Aber was können chinesische und russische Hacker bloß auf den Servern von Microsoft suchen? Meine Urlaubsfotos sind doch den Aufwand gar nicht wert!
Andrew J. Grotto, ehemals leitender Direktor für Cyberpolitik im Weißen Haus nennt Microsoft eine Gefahr für die nationale Sicherheit.
Geschäftsmodell
Inzwischen ist es üblich, dass man Dinge nicht mehr kauft, sondern nur für eine einmalige oder eine dauerhafte Gebühr leiht. Windows war bisher immer noch so eine Software, die sich Leute gekauft haben – die es zum Rechner dazu gab. Aber warum sollte das so bleiben? Vielleicht gibt es Windows 12 im Abonnement. Derartige Ideen kursieren.
Außerdem könnte Microsoft so viele schöne Dinge mit den gesammelten Verhaltensdaten der Nutzenden machen. Schon jetzt bekomme ich auf dem Login-Bildschirm immer mal wieder Angebote für den X‑Box-Gaming-Pass angezeigt. Auf meinem Arbeitsrechner. Microsoft will offenbar noch mehr Reklame in Windows einbauen.
„Too Big to Care“
Generell kann Microsoft mit seiner Software machen was es will. Wenn es den Leuten nicht gefallen würde, könnten sie eh nicht wechseln. Weil es das einzige und das beste Angebot ist. Oder wie Darth Vader in Episode V sagte: „Ich ändere den Deal. Beten Sie, dass ich ihn nicht weiter ändere.“
Lina Khan, die Chefin der US-Kartellbehörde, nennt das Phänomen bei Microsoft und ähnlichen Monopolunternehmen „Too Big to Care“. Die Kunden können nicht weg. Das reduziert die Motivation der Unternehmen, sich Mühe zu geben.
Stattdessen kann man mehr Geld aus ihnen herauspressen. Auch wenn die Dienste dadurch schlechter werden. Der Netz-Vordenker Cory Doctorow bezeichnet diesen Niedergang blumig als „Enshittification“:
„Plattformen sterben folgendermaßen: Zuerst sind sie gut zu ihren Nutzern; dann missbrauchen sie ihre Nutzer, um die Dinge für ihre Geschäftskunden besser zu machen; schließlich missbrauchen sie diese Geschäftskunden, um den gesamten Wert für sich selbst zurückzubekommen. Dann sterben sie. Ich nenne das „Enshittifizierung“, und es ist eine scheinbar unvermeidliche Konsequenz, die sich aus der Kombination der Leichtigkeit ergibt, mit der eine Plattform die Zuweisung von Werten ändern kann, in Verbindung mit der Natur eines „zweiseitigen Marktes“, wo eine Plattform zwischen Käufern und Verkäufern sitzt und beide als Geiseln für den anderen hält und einen immer größeren Anteil des Wertes abgreift, der zwischen ihnen vermittelt wird.“ – Wired
Wenn also die umfassende Abhängigkeit von einem einzigen Anbieter, der einen zweifelhaften Umgang mit IT-Sicherheit, Unternehmensgeheimnissen und Personendaten hat und der sich für seine einzelnen Kunden einen Dreck interessiert, nicht genügend Anlass sind, um über Alternativen nachzudenken, dann weiß ich auch nicht.
Es war das Jahr 2003!
Menschen, die im Jahr 2003 geboren wurden, sind in diesem Jahr 21 geworden. Vor 21 Jahren fiel in München der Beschluss, die Verwaltung unabhängiger von dem einen Anbieter, Microsoft, zu machen. Microsoft hatte damals gerade ein Kartellverfahren hinter sich, bei dem es wegen aggressiver Praktiken in zwei Unternehmen zerschlagen werden sollte: Eines für das Betriebssystem und eines für die Anwendungen. Umgesetzt wurde das dann nicht mehr. Das war der letzte größere Anlauf, so etwas wie Markt herzustellen im digitalen Bereich. Aber der Ruf des Unternehmens war angekratzt.
2003 war Linux noch echt kruder Scheiß. Ich habe Linux seit 1997 immer mal wieder ausprobiert. Damals konnte ich damit wenig anfangen. Für mehr als einen Fileserver hat es bei mir 2004 nicht gereicht. 2004 wurde dann Ubuntu mit dem Ziel gestartet, Linux für normale Leute zugänglich zu machen. Open Office ist 2001 erst aus StarOffice hervorgegangen. Das Open Document Dateiformat wurde erst 2005 beschlossen.
Nur mal zur Orientierung: so Sachen wie Facebook, Twitter oder das Smartphone gab es 2003 noch gar nicht. „Cloud Computing“ ist erst so um 2008/2009 ein Begriff in Deutschland geworden. Google Docs ist 2006 gestartet. Microsoft hat sein Office so nach und nach ab 2009 online gebracht. Freie Alternative sind noch später entstanden: ownCloud, als Vorgänger von Nextcloud ist 2010 gestartet. Collabora als Online-Office ist 2016 gestarte
Auf in die Cloud!
Viele Probleme, die andere Programme haben, rühren daher, dass der Markt eben inzwischen so konzentriert ist und einzelne Oligarchen alles dominieren. Sie bestimmen, wo es lang geht und anderen orientieren sich ausschließlich an ihnen. Beispielsweise entwickeln viele Hardware-Hersteller nur Treiber für Windows. Deswegen werden gerade auf Laptops manche Funktionen nicht von Linux unterstützt. Bei Linux muss erst jemand herausfinden, wie man diese Funktionen nutzbar machen kann. Ein ähnliches Problem gilt für proprietäre Dateiformate.
Ich weiß nicht genau, was dazu geführt hat, dass man in München 2017 sein Linux-Projekt abgebrochen hat, um zu Microsoft zurück zukehren. Einige sagen, es gab zu viele technische Probleme. Das wird sicher ein Faktor gewesen sein. Andere behaupte, dass der Besuch von Microsoft-Chef Steve Ballmer 2003 beim Münchner Oberbürgermeister eine Rolle gespielt haben könnte oder der Umzug der Microsoft Deutschland Zentrale nach München 2013. Immerhin bescherte der Stadt das Gewerbesteuern.
Aber: Noch 2009 hatte Microsoft im Gesamtmarkt einen Anteil von 95 % (Mac 3 %, Linux 0,6 %) – Inzwischen hat Windows nur noch einen Marktanteil von 72 % – vor allem, weil Apple sich einen Anteil von 14 % erkämpft hat – allerdings eher nicht in Verwaltungen. Selbst Linux liegt heute bei 4 %. Man kann heute viel unkomplizierter Macs oder Linux nutzen, weil viele Dinge im Browser laufen. Da spielt das Betriebssystem überhaupt keine Rolle mehr.
Diejenigen, die heute versuchen, sich von Microsoft zu befreien, kennen die Erfahrungen aus München. Alle, die in dem Bereich arbeiten, werden sich mit den Lehren aus LiMux beschäftigt haben. Sie wiederholen die Fehler nicht. Das kann man schon daran erkennen, dass Linux eine nachgeordnete Rolle spielt. In Schleswig-Holstein will man die Mitarbeitenden der Landesverwaltung zunächst in die Cloud holen und erst am Ende Linux unten drunter schieben.
Veränderung steht ohnehin an
In die Cloud – dieser Schritt steht ohnehin an. Microsoft will ebenfalls weg von den lokal installierten Programmen, hin zum Online-Dienst. Dieser Schritt hat Vorteile, weil man online zusammen an einem Dokument arbeiten kann, statt bspw. die Word-Datei 78x per Mail hin und herzuschicken.
Dadurch ändern sich Abläufe in den Teams. Veränderungen, die sowieso besprochen und gelernt werden müssen. Ob man dann den Schritt vom lokalen Microsoft Office zum Microsoft 365 geht oder zu einer Alternative, ist dann egal.
Die Verwaltungen sind per Onlinezugangsgesetz (OZG) angehalten, ihre Dienste für die Menschen online zugänglich zu machen. Und wenn die Leute ihre Anträge schon online und digital stellen, dann können sie auch gleich online und digital weiterverarbeitet werden. Schleswig-Holstein nutzt dazu eine OZG-Cloud. Das ist ohnehin Software, die im Browser läuft und nicht von Microsoft hergestellt wird.
Es ist eine Bewegung!
Wenn sich heute eine Verwaltung auf den Weg macht, sich von Microsoft zu befreien, dann steht sie nicht mehr alleine da. Mehrere Bundesländer haben Vorfahrt für Open-Source beschlossen und der Bund hat das „Zentrum für Digitale Souveränität“ gegründet. Auch Länder wie Schweden und Frankreich versuchen unabhängig von Microsoft und anderen Monopolisten zu werden.
Alle 73 Modellprojekte Smart City haben ihre Förderungen unter der Auflage bekommen, möglichst viel Open-Source zu nutzen.
Wie gesagt: Die EU-Kommission hat ebenfalls von ihrem Datenschutz den Auftrag bekommen, sich eine Alternative zu überlegen. Und sie hat bereits vorher eine Open-Source-Strategie gehabt!
Es ist nicht mehr nur eine Landeshauptstadt, sondern eine ganze Bewegung.
Aber warum passieren so viele spannende Sachen nur in der Verwaltung? Zum einen liegt es daran, dass der Datenschutz in diesem Bereich strengere Maßstäbe anlegt. Außerdem sollten demokratische Gesellschaften nicht abhängig von einzelnen Unternehmen sein. Zum anderen kann Unternehmen der Datenschutz ihrer Mitarbeitenden egal sein.
Was Microsoft mit deren Verhaltensdaten macht, betrifft die meisten Firmen nicht. Außer vielleicht man ist die direkte Konkurrenz. So scheint bswp. Google weitestgehend einen Bogen um das Betriebssystem von Microsoft zu machen. Dort will man sich offenbar nicht in die Karten schauen lassen. Google betreibt gut 100.000 Arbeitsplätze mit einem eigenen Linux. Es geht also. Auch bei Apple wird man vermutlich weitestgehend auf dem eigenen Betriebssystem arbeiten. Auch das scheint zu gehen.
Ein Leben ohne Microsoft ist möglich! Ich frage mich nur, ob es genügt, wenn der Staat ein paar Millionen Euro in Open-Source steckt, ohne auf der anderen Seite auch die Monopole zu zerschlagen und wieder einen Markt für Software herzustellen.
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