Schon von Anbeginn war der Mensch gezwungen mit Anderen zusammen für die Versorgung mit den verschiedenen Lebensmitteln zu kooperieren – zu wirtschaften. Was der Eine nicht hatte, konnte im Tausch gegen ein anderes knappes Gut erworben werden. Sinn und Zweck dieses Vorgehens war dabei nie das Tauschen an sich, sondern die möglichst sinnvolle Verteilung knapper Ressourcen in selbstorganisierender Art und Weise. Kein zentrales Planungsorgan musste Bestände und Bedarf prüfen und Käufer und Verkäufer zusammen bringen – Das Produkt fand von allein zum Markt.
„Wirtschaften ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck des guten Lebens.“1
Grundlage dieses Wirtschaftens waren immer schon verschiedenste Regeln. Dabei gibt es auf der einen Seite Regeln der Ökonomie: Ohne die Verpflichtung zur Vertragstreue zum Beispiel könnte kein Geschäft sicher abwickelt werden. Es gibt aber auf der anderen Seite auch die Regeln der Gesellschaft, ohne die die jeweilige Gesellschaft nicht funktionieren kann, gegen die aber auch die Wirtschaft nicht verstoßen darf. So durften im Mittelalter Werke von als Ketzer eingestuften Autoren nicht verkauft werden.
Mit der Aufklärung wurden immer mehr von diesen traditionellen Regeln auf den Prüfstand der Vernunft gestellt – Warum sollte man nicht Bücher verkaufen dürfen, die noch so abstruse Thesen vertreten? Sollten sich die enthaltenen Ideen als nicht haltbar herausstellen, wird sich das Buch ohnehin nicht verkaufen.
In der Folge wurde die Gesellschaft immer liberaler – man musste sich fortan nicht mehr an Regeln halten, nur weil es sie schon immer gab, sondern weil sie begründet werden können. Eine ganz ähnliche Entwicklung hat die Ökonomie genommen. Die alten Systeme von Zünften und Innungen mit ihren festgelegten Preisen und Marktzugangsbeschränkungen wurden aufgelöst und weitestgehend dem Markt überlassen. Nur die Unternehmer, die ihr Dasein durch Gewinnmaximierung rechtfertigen können, sollten überleben – „Traditionsunternehmen“ sollten nicht per se geschützt sein. Homann nennt es den „Verzicht auf altruistisch, solidarische Motive“2. Er bezieht sich dabei auf Adam Smiths „Wealth of the Nations“:
„Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen‑, sondern an Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“3
Nichtsdestoweniger unterliegt die Ökonomie immer noch nicht nur den eigenen Gesetzen (Gewinnmaximierung), sondern auch gesellschaftlichen Regeln, denn „[…] nicht alles, was ökonomisch als rational gilt, ist deswegen auch schon vernünftig! Vernünftig zu sein und zu handeln, das bezeichnet den viel umfassenderen Anspruch einer lebenspraktischen Ganzheitlichkeit des Orientierungshorizonts.“4 So gibt es zum Beispiel Gesetze zum Jugend- Arbeits- und Umweltschutz, die die Ökonomie mit der „lebenspraktischen Ganzheitlichkeit“ versöhnen sollen.
Diese Regeln sind von Land zu Land aber so verschieden wie die Gesellschaften, die sie hervorbringen und durch die Globalisierung der Kapitalmärkte Mitte des 20. Jahrhunderts stehen diese Rahmenordnungen ebenfalls im kapitalistischen Wettbewerb.
„Die treibende Kraft stellen […] in erster Linie mächtige Kapitalverwertungsinteressen auf der Suche nach neuen Märkten und kostengünstigeren Produktionsstandorten dar.“5
Sobald sich also durch ein neues Gesetz die Produktionsbedingungen in einem Land verteuern, verlieren die darauf angewiesenen Aktien an Wert und Kapital fließt in andere Länder. In letzter Konsequenz würde dies bedeuten, dass das Kapital für ein Angleichen der Rahmenordnungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner sorgt. Die Ökonomie diktiert der Gesellschaft die Regeln – ohne Kursänderung steht am Ende eine totalitäre Ökonomie, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens bestimmt.
Deshalb wird die Frage nach dem ökonomischen Wert der Dinge unterschiedlich beantwortet. Und es finden sich Rechenbespiele, die „kostenlosen“ Dingen einen ökonomischen Wert geben. Ein Vertreter dieser Ansicht, ist Frederic Vester, der den Wert zum Beispiel eines Blaukehlchens nicht nur im Wert seines Fleisches und seiner Federn sieht, sondern seiner Leistung „als Schädlingsbekämpfer, als Verbreiter von Samen, Freude fürs menschliche Gemüt, als Indikator für Umweltbelastungen und Symbiosepartner“6 – beobachtet ein Mensch einen Vogel 5 Minuten lang, so lässt sich das mit dem 5 Minuten-Anteil an einer Kinokarte gleichsetzen. Da ein Vogel im Laufe seines Lebens auf diese Weise viele Menschen beglückt, kann man so seinen Wert hochrechnen. In der Praxis dürfte der Wert dieses Ansatzes auf Grund der hoch multifaktoriellen Einflüsse auf derartige Rechnungen gegen Null gehen.
Die andere Sicht ist dann auch, dass die Welt äußerst komplex und die Ökonomie nur ein Teil des menschlichen Daseins ist, nämlich „[…] Mittel zum Zweck des guten Lebens“7. Folglich wird immer Abwägungen zwischen ökonomischen und nicht-ökonomischen Werten geben. Werte in diesem Sinne sind „Vorstellungen, an denen sich Menschen orientieren. Man unterschiedet u.a.
- moralische (Gerechtigkeit, Treue),
- religiöse (Nächstenliebe, Gottesfurcht),
- politische (Freiheit, Gleichheit) und
- materielle (Wohlstand) Werte.“8
Es geht auch darum, das Zusammenleben zwischen den Menschen zu organisieren und nicht nur materielle Werte anzuhäufen.
Drei Theorien
Dieses Zusammenleben und das Zusammenspiel der Gesellschaft mit der Ökonomie zu ordnen wird von verschiedenen Autoren verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen überantwortet. Während Karl Homann zum Beispiel die Rahmenordnung als „systematischen Ort der Moral“9, verlangt Peter Ulrich auch von den ökonomischen Spielern eigenverantwortliches Handeln10. Eine dritte Position, wie sie zum Beispiel Armin Lerch vertritt, besagt, dass ethisches Handeln Ergebnis der Konsumentensouveränität sein muss11. Dabei sind diese drei Kategorien von keinem der Autoren ausschließlich vertreten. Sie legen aber ihren Schwerpunkt jeweils auf einen der genannten drei Bereiche.
Die Rahmenordnung
Bei einer Rahmenordnung handelt es sich um die Menge von Gesetzen und Anordnungen, die (nach Homann) die Spielregeln darstellen, an die sich die Spieler (die Unternehmen) halten müssen.
„Die Rahmenordnung umfasst allgemeine, (relativ) dauerhafte Regeln für das Handeln. Diese müssen beim Handeln eingehalten werden, ihre Verletzung wird sanktioniert. Für die moderne Wirtschaft sind dies insbesondere: Verfassung, Gesetze, also insbesondere das öffentliche Recht, das Privatrecht und das Strafrecht, ferner die speziellen Bereiche des Wirtschaftsrechts wie das Gesellschaftsrecht, das Arbeits- und Tarifrecht, das Wettbewerbsrecht, Mitbestimmungsrecht und der gesamte Komplex der Unternehmensverfassung, ferner die Haftungsregeln, schließlich bestimmte moralische und kulturelle Verhaltensstandards.“12
Innerhalb dieser Normen, können die Wirtschaftsteilnehmer ihre Ziele verfolgen.
Gesetze können aber aktuellen Entwicklungen immer nur hinterherlaufen, da sie in offenen Gesellschaften das Ergebnis demokratischen Aushandelns sind. Am Beispiel der Biotechnologie kann man diesen Vorgang verfolgen:
- Die Technologie gibt dem Menschen (Unternehmen) Möglichkeiten, die gegen die Wertevorstellungen vieler Menschen verstoßen.
- Das bedeutet aber nicht, dass es für bestimmte Angebote (zum Beispiel) geklonte Menschen nicht einen Markt gibt.
- Sobald ein gesellschaftlicher Konsens zu einem Thema gefunden wurde, gibt es ein Gesetz, dass in Deutschland zum Beispiel das Klonen von Menschen verbietet.
- Da man nun mit erheblichen Strafen rechnen muss, ist das Klonen von Menschen in Deutschland nicht mehr wirtschaftlich.
In der Übergangszeit aber wäre es den Unternehmen erlaubt zu Klonen – das Gewinnmaximierungsprinzip der Ökonomie gebietet es den Unternehmen geradezu.
Wie bereits eingangs erwähnt, stehen die verschiedenen Rahmenordnungen im Wettbewerb, dessen ist sich auch Homann bewusst, wenn er feststellt, dass eine „[…] überzeugende Lösung auf der Ebene einer Welt-Rahmenordnung […]“ noch aussteht, so dass die „[…] Gemeinschaft in der kollektiv schlechtesten Lösung, in der kollektiven Selbstschädigung“13 landet.
So beschreibt es auch Rainer Hank in seinem Buch „Das Ende der Gleichheit oder warum der Kapitalismus mehr Wettbewerb braucht“:
„Es scheint auf den ersten Blick widersinnig, von einer Vielfalt der Kapitalismen zu sprechen, nachdem offenkundig ist, dass sich die Welt insgesamt auf ein einziges wettbewerbliches Markt-Paradigma zubewegt.“14
Der Grund für diese neue, differenzierte Perspektive liegt seiner Meinung nach darin, dass „seit der Kapitalismus sich als globale Wirtschaftsordnung durchgesetzt hat, […] umso deutlicher [wird], wie vielgestaltig seine jeweilige nationalen Formen innerhalb einer auf Wettbewerb zugeschnittenen Wirtschaftsordnung sind.“15
„Dabei unterscheiden sich die Kapitalismen in der Anlage ihres ordnungspolitischen Rahmens [also der von Homann beschrieben Rahmenordnung], im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement und in der Steuerung und Kontrolle ihrer Unternehmenswelt.“
Im Weiteren fasst er die vielfältigen Ausprägungen kapitalistischer Systeme in drei Kategorien zusammen, die seiner Meinung nach in Konkurrenz stehen:
„[…] zu Beginn des neuen Jahrtausends [konkurrieren] drei Typen um den Erfolg im neuen Kapitalismus: der angelsächsische, der kontinentaleuropäische und der asiatische.“16
Dabei beschreibt Homann das angelsächsische Modell (USA / Großbritannien / Neuseeland) als sehr liberal und erfolgreich. Das kontinentaleuropäische Modell (z.B. EU) ist weniger liberal, da viele Aspekt der Ökonomie wie Tarife und Normen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen, den Parteien, den Gewerkschaften, den Arbeitgebern usw. ausgehandelt werden. Das geht allerdings nur um den Preis eines gedämpften Wachstums. Im asiatischen Kapitalismus werden nach Hank die ökonomischen Ziele stark von den Regierungen vorgegeben und durchgesetzt, was diese Form sehr anfällig macht.
Wie schon der Titel seines Buches besagt, fordert Hank die Auflösung korporatistischer Strukturen in Deutschland und eine Liberalisierung des Marktes. Als Argument verweist er auf die Erfolge der amerikanischen Wirtschaft in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Sein Buch ist allerdings vor dem Niedergang der New-Economy und den Terroranschlägen des 11.September 2001 erschienen, die auch dem amerikanischen System die Grenzen aufgezeigt haben:
„Insofern stellt der 11. September einen Wendepunkt dar. Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass am unmittelbar darauf folgenden Tag die Regierung von George W. Bush für mehrere Industriezweige wie Versicherungen, Luftfahrt und Rüstung große Finanzhilfen zugesagte, womit sie das liberale Credo verletzte und zu Gunsten einer neo-keynesianistischen Politik aufgibt.“17
Helmut Schmidt kommentierte die Folgen des Niedergangs der New Economy in einem „Plädoyer für mehr Moral“ in der Zeit:
„Seit dem Frühjahr des Jahres 2000 haben die Betrügereien gewaltig zugenommen. Damals begann der Absturz der Aktienkurse in Nordamerika und in Europa, bei dem die US-Börse nicht ganz die Hälfte, die deutsche Börse sogar zwei Drittel ihres Wertes verlor. Vorher hatte es eine Massenpsychose gegeben, der manche Topmanager auch in alten, angesehenen Produktions- und Handelsfirmen sowie insbesondere in Banken und Versicherungen anheim gefallen waren; man hatte sich der Illusion ständig steigender Aktienkurse hingegeben. Dazu war in den neunziger Jahren [des 20. Jahrhunderts] die massenhafte Illusion einer unaufhaltsamen New Economy und eines Neuen Marktes gekommen. Als dann der Absturz erkennbar wurde, haben allzu viele zunächst der Versuchung zum Vertuschen von Fehlern und vielfach auch von Betrügereien nachgegeben.“18
Unternehmensethik
An dieser Stelle setzt die Unternehmensethik von Peter Ulrich an. Er sieht die Unternehmen in ihrer gesellschaftlichen Verwurzelung – Die Ökonomie profitiert von den Regeln der Gesellschaft, wenn es zum Beispiel um die Vertragstreue geht und genau deswegen hat die Wirtschaft auch eine gesellschaftliche Verantwortung zu tragen, sich an deren Regeln zu halten und sie zu fördern.
„Es macht jedoch wenig Sinn, zwischen Ordnungs- und Bürgerethik einen Gegensatz zu konstruieren; vielmehr setzen sie sich wechselseitig voraus […]“19
„Bürgerethik“ bezieht sich auf den von Ulrich entworfenen „Wirtschaftsbürger“:
„Der Kern des republikanischen Wirtschaftsethos besteht in der prinzipiellen Bereitschaft des Bürgers, seine privaten Interessen nicht voraussetzungs- und rücksichtslos zu verfolgen, sondern den privaten Erfolg oder Vorteil nur unter der Bedingung seiner Legitimität im Lichte der Prinzipien einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleicher Bürger erreichen zu wollen.“20
Ulrich bestreitet damit den Sonderstatus der Ökonomie als eigengesetzliches System außerhalb der Gesellschaft und holt sie damit auf den Boden der Ethik zurück. BDI-Präsident Rogowski fasst diese Forderung in die Worte: „Auch Topmanager haben sich am Begriff des ehrbaren Kaufmanns zu orientieren.“21
Da aber ökonomische Vernunft und Ethik gelegentlich kollidieren (sonst gäbe es die Diskussion über Wirtschaftsethik wohl nicht), bleibt die Frage:
„Auf welcher Motivationsgrundlage kann eine solche noble Haltung beruhen?“22 Peter Ulrich stellt sie als Einleitung für seine weiteren Ausführungen und nennt dabei eines der Schlagworte der Diskussion: Motivation
Reinhard K. Sprenger stellt in seinem Buch „Mythos Motivation“ ursprünglich Überlegungen zu den Gründen des Versagens klassischer Motivationsstrategien an, und da diese Strategien oft als kalter „[…] Hauch des Nicht-Ernstnehmens, der Manipulation und der verdeckten Abwertung […]“23 empfunden wird, fasst sein Ergebnis in dem Satz „Das häufigste Vergehen im Wirtschaftsleben ist die fundamentale Missachtung der Menschwürde.“24 zusammen.
Obwohl Sprenger mit dieser ökonomischen Perspektive „nicht als praktischer Diskursethiker“ auftritt, bescheinigt Wolfgang Kersting ihm aber durchaus philosophische Qualitäten, einen virtuosen Umgang mit dem „kantisch-diskursethischem Vokabular“ und der aufklärungsethischen Sprache.25
Sprenger stellt einen Wertewandel fest, der seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Einstellung der Menschen zu Arbeit und Leistung verändert hat:
„Bis in die frühen 70er Jahre entschieden vor allem ‚Verdienst’ und ‚Prestige’; Seit den 80er Jahren kommen mehr Job-Qualitäten und Möglichkeiten der Selbstentfaltung hinzu. Neue Kritikfähigkeit (Bürgerinitiativen), basisdemokratische Ideen, Feminismus, und Ökologiebewegung machen vor den Unternehmen nicht mehr Halt. Vor allem die 90er Jahre haben im Zeichen des Internetbooms gezeigt, dass für viele, vor allem jüngere und hochqualifizierte Menschen ‚Unternehmen’ wieder ganz wörtlich verstanden wurden: im Sinne von selbst etwas unternehmen, kreativ werden, die eigene Firma gründen […]. Man sucht eine Tätigkeit, deren Zielsetzung man akzeptiert, deren Sinn man erkennen kann und die sinnvoll für das eigene Leben ist.“26
Daraus folgt, dass mit den Menschen ethische Vorstellungen und Ansprüche (citizen preferences27) in die Unternehmen getragen werden. Diese Vorstellungen sind die Motive, was bedeutet, „dass Menschen motiviert sind.“28 Sprenger demonstriert, dass dauerhaftes über diese Motivationen Hinwegsetzen zu Demotivation führt. Diese Demotivation schlägt sich dann in sinkender Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter nieder und hat somit auch ökonomische Konsquenzen für die Unternehmen.
Als Lösungsansatz schlägt Sprenger eine Hinwendung zu dem, was der Motivation im Wege steht. Also zum Beispiel den Konflikten zwischen ethischer Motivation und dem ethischen Verhalten des Unternehmens.
Peter Ulrichs oben genannter Entwurf des Wirtschaftsbürgers, kann den Unternehmen helfen, sich ethisch zu Verhalten sowie gleichzeitig und dadurch die Motivation der Mitarbeiter erhalten. Jedoch macht er darauf aufmerksam, dass dieses Verhalten von der politischen Rahmenordnung geschützt und unterstützt werden muss, „[…] dass die Wettbewerbsnachteile, die verantwortungsbewusste Wirtschaftsbürger durch den punktuellen Verzicht auf das Ergreifen einer Einkommens- oder Gewinnchance gelegentlich in Kauf zu nehmen haben, durch Mehrleistung anderer Art oder in anderen Situationen ohne weiteres wieder wettgemacht werden können. […] Die Inkaufnahme solcher ‚Kleinkosten-Situationen’ gefährdet die Selbstbehauptung der Individuen im Wettbewerb nicht, beeinträchtigt ihre Lebenslage nur unwesentlich und ist eben deshalb zumutbar.“29
Gemeint ist damit zunächst das Unternehmen, dem die Rahmenordnung zum Beispiel moralische Erwägungen abnimmt, weil bestimmtes Verhalten auch Wettbewerbern verboten wird. Auf der anderen Seite soll aber auch dem einzelnen Menschen das Risiko ethischen Verhaltens gemindert werden.
Exemplarisch nennt Ulrich hier das Whistleblowing, dass der „zivilisierte Rechtsstaat […] seinen Bürgern [als] ein Grundrecht auf zivilen Ungehorsam […] zuerkennt.“30 Whistleblower sind „Menschen, die sich – zunächst auf dem Dienstweg, dann aber auch dezidiert außerhalb desselben – bemerkbar machen. Sie weisen auf illegale oder – aus ihrer Sicht – illegitime Handlungsweisen einer Person, eines Unternehmens, einer Partei, einer Gewerkschaft, einer Kirche oder einer anderen Institution hin.“31
Konsumentenethik
Ulrichs Wirtschaftsbürger ist aber nicht nur kritischer Mitarbeiter, auch wenn sein Schwerpunkt hier liegt, sondern auch kritischer Konsument und Kapitalanleger:
„Sie nutzen ihre Kaufentscheide, um den Anbietern auf dem Markt, der Politik und ihren Mitbürgern ‚Zeichen’ zu geben – Zeichen dahingehend, dass sie nicht nur an preisgünstigen und funktional guten Produkten interessiert sind, sondern auch nach den humanen, sozialen und ökologischen Bedingungen des gesamten Wertschöpfungsprozesses dieser Produkte fragen: von der Gewinnung der Rohstoffe über die Weiterverarbeitung bis zur Vermarktung und der Entsorgung der Abfälle.“
Die beschriebene Theorie legt also die Verantwortung in die Hände der Konsumenten. Der Käufer – und das sind ja im Prinzip alle Menschen, können mit ihrem Kaufverhalten das ethische Verhalten der Unternehmen unterstützen. Sind Produkte aus Kinderarbeit nicht erwünscht, sollten sie nicht gekauft werden. Der Nutzen von Kinderarbeit würde vom Schaden des Umsatzrückganges absorbiert und in Folge unwirtschaftlich.
Das Prinzip, das der Kunde nach seinen eigenen Präferenzen entscheidet, lässt sich auf Adam Smith zurückführen. Es wird aber in dreierlei Hinsicht kritisiert:
„Erstens seien die Präferenzen langfristig nicht stabil, sondern wandelbar, weshalb ein langfristiges Konzept wie ‚Nachhaltigkeit’ auch eine Änderung (Beeinflussung) der Präferenzen beinhalten müsse. Zweitens würden die Individuen selbst ihre wahren Bedürfnisse z.T. nicht kennen, hätten vielmehr irrationale Präferenzen, weshalb ihre Souveränität eingeschränkt werden müsse. Und drittens gebe es eine Hierarchie der Präferenzen: Über unseren Präferenzen als Konsumenten stünden unsere Präferenzen als Bürger. Als solche hätten wir z.B. eine Präferenz für den Umweltschutz, die in unseren Konsumenten-Präferenzen nicht zum Tragen käme.“32
Diese Kritik erkennt Lerch an, zeigt jedoch Wege zum Umgang mit den Schwächen der Konsumentenethik auf. Die wandelbaren Präferenzen ließen sich zum Beispiel durch Bildung zugunsten ethischen Verhaltens beeinflussen – der Gefahr des Paternalismus hält er die nicht demokratisch abgestimmte bestehende Beeinflussung der Werbeindustrie entgegen. Beeinflussung fände ohnehin statt, so sollte sie vorzugsweise darauf basieren, dass „zunächst […] auf demokratischem Wege die Ziele der Gesellschaft abgesteckt werden.“33
Ähnlich sieht seine Antwort auf die irrationalen Präferenzen aus:
„Das Mittel der ersten Wahl für den Umgang mit der ‚Irrationalität’ von Präferenzen in einer demokratisch verfassten Gesellschaft heißt Aufklärung und Bildung.“34
Dem Vorwurf des Paternalismus begegnet Lerch mit dem klassischen Problem der Abgrenzung des Individuums. Nach Mills habe die Gesellschaft kein Recht auf Eingriffe in Entscheidungen, so sie nur das Individuum beträfen, auch wenn sie selbstschädigend wäre. Kaum eine Entscheidung hat aber keinerlei Auswirkungen auf die Gesellschaft. Lerch nennt das Beispiel eines Übergewichtigen, der das Recht haben könnte, sich selbst durch sein Übergewicht zu schädigen, dadurch aber eventuell seine Familie oder das Gesundheitssystem belastet. Hilft die Aufklärung der Konsumenten nicht, sollte ihnen auch vorgeschrieben werden können, was sie kaufen dürfen und was nicht.35 (Hier spielt dann auch die Rahmenordnung wieder eine Rolle.)
Das Problem der hierarchischen Präferenzen kann Lerch nicht auflösen, er stellt es aber als Widerspruch zwischen citizen preferences und consumer preferences dar. So ist der Gedanke des Naturschutzes in der Bevölkerung weit verbreitet, setzt sich jedoch bei Konflikten mit wirtschaftlichen Aspekten selten in entsprechendes Verhalten um: „Unsere Wertschätzung für die Natur sei nicht in Geld (und damit letztlich in Einheiten an Konsumgütern) abzuwägen.“36
Der weitere Haken an dieser Theorie ist aber, dass Einkaufen dadurch unglaublich kompliziert werden würde: Stehen dem Käufer eines Paar Turnschuhe außer dem Preis noch Information über die Arbeitsbedingungen bei deren Herstellung, deren Transportwege und deren Herstellung zur Verfügung müsste er abwägen, welches Paar den höchsten Wert zum geringsten Preis bietet. Kann aber auf der einen Seite eine ortsnahe und umweltschonende Herstellung, auf der anderen Seite Zwangsarbeit und einen hohen Preis aufwiegen? Soll man die Schuhe kaufen, die zwar einmal um die Welt transportiert wurden, dafür aber von glücklichen Arbeitern genäht wurden, auch wenn ihr Preis höher ist? Darüber hinaus würden die meisten Firmen eventuell negative Informationen auch gar nicht preisgeben, wenn sie nicht müssen. Es besteht also eine Informationsasymetrie37, die wiederum nur durch ordnungspolitische Vorgaben überwunden werden kann.
Trotz aller Schwachpunkte der Konsumentenethik verfügen die Kunden dennoch über die Möglichkeit entsprechend ethischer Vorstellungen zu entscheiden, „er hat die Möglichkeit, im Rahmen seiner Kaufentscheidung Verantwortung zu übernehmen„38. Dieses Verhalten kann durch Maßnahmen der Rahmenordnung oder der Wirtschaft selbst gefördert werden, denn die Kunden „sind […] auf die Zusammenarbeit mit bzw. Unterstützung von Dritten angewiesen: Medien, staatliche Institutionen und Interessenvereinigungen können hier einen wesentlichen Beitrag leisten.“
Fazit
Während Rainer Hank in „Der Kapitalismus braucht mehr Wettbewerb“ die klassische Position des Wirtschaftsliberalismus vertritt und den deutschen Korporatismus als wettbewerbshemmend beklagt und auch sicher in bestimmten Fällen der Überregulierung recht hat, kann er nicht die Frage nach der Ethik beantworten. Die im solchen Fall typischerweise dem Kunden überlassene Entscheidung kann nur unzulänglich sein, wenn Unternehmen nicht zur Information verpflichtet sind – derartige Verpflichtungen können nur funktionieren, wenn sie – wie von Homann gefordert – in der Rahmenordnung festgeschrieben, für alle Marktteilnehmer bindend und sanktionsbewehrt sind.
Die Rahmenordnung ist Ergebnis gesellschaftlichen Aushandelns – eines demokratischen Prozesses, an dem sich laut Homann auch die Unternehmen selbst beteiligen müssen.
„Die aus systematischen Gründen immer lückenhaften und aus pragmatischen Gründen zunehmend defizitär werdende Rahmenordnung stellt für uns den systematischen Ansatzpunkt für eine eigenständige, innovative Unternehmensethik dar.“39
Doch gerade in Unternehmen kann sich ethisches Verhalten nur durchsetzen, wenn es einerseits vom Recht gestützt, andererseits durch Kundenverhalten gefördert wird.
Das Kundenverhalten hängt stark von Informationen ab – ohne Transparenz in den Unternehmen der Kunde kann nicht ethisch handeln. Hier können Verpflichtungen der Rahmenordnung die Unternehmen zur Kennzeichnung zwingen. Es gibt aber auch die Chance für ethisch agierende Unternehmen, ihr besonderes, ethisches Verhalten freiwillig offen zu legen und als Werbung zu nutzen.
Es zeigt sich also, dass es keinen eindeutigen, systematischen Ort der Moral gibt: Die Moral entsteht im Dreieck zwischen Rahmenordnung, Unternehmensethik und Konsumentenethik – so wie es im Prinzip schon jetzt geschieht. Das Problem besteht vielmehr im beschriebenen Wettbewerb zwischen den verschiedenen „Moraldreiecken“. Die freie Marktwirtschaft und die Globalisierung sind ein relativ junges Phänomen, auf das es gilt, eine globale Antwort zu finden. Jedoch sind das „[…] Prozesse von Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderten […]. Um unseren Rechts- und Verfassungsstaat aufzubauen, haben wir 500 plus x Jahre gebraucht. Das sind Dimensionen, mit denen man rechnen muss.“40
Sind also viele Ansätze zu Wirtschaftsethik in der Praxis derzeit noch nicht relevant, so betont Homann:
„50 Jahre brauchen wir bestimmt – und das heißt für mich, wir müssen gestern anfangen.“41
Literatur
- BRUCKNER, Pascal: „Ich kaufe, also bin ich“. Aufbau-Verlag GmbH, Berlin (2004)
- FISCHER, Gabriele: „Den Eigennutz bekommen wir nicht weg.“ in brand eins (08/2002)
- HANK, Rainer: „Das Ende der Gleichheit oder warum der Kapitalismus mehr Wettbewerb braucht“, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main (2000)
- HOMANN, Karl / Blome-Drees, Franz: „Wirtschaftsethik als Ordnungsethik“ in Wirtschaftsethik und Unternehmensethik, Göttingen (1992)
- KERSTING, Wolfgang: „Ethischer Kapitalismus? Probleme der Wirtschaftsethik“ in „Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend“, Frankfurt am Main (1997)
- KNOP, Julia (Chefredaktion): „Glossar“ in brand eins (05/2003)
- LERCH, Achim: „Das Prinzip der Konsumentensouveränität aus ethischer Sicht“ in Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (1/2, 2000)
- LOTTER, Wolf: „Was ist eigentlich Whistleblowing?“ in brand eins (06/2003)
- SCHMIDT, Helmut: „Das Gesetz des Dschungels“ in Die Zeit (50/2003)
- SCHRÖDER, Lina: „Wirtschaft ist keine Religion“ in brand eins (08/2003)
- SPRENGER, Reinhard K.: „Mythos Motivation – Wege aus der Sackgasse“, Campus Verlag Frankfurt (17. Auflage 2002)
- SRNKA, Katharina / Schweitzer, Fiona M.: „Macht, Verantwortung und Information: Der Konsument als Souverän?“ in Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (1/2, 2000)
- STEPHAN, Beat A.: Interview mit ULRICH, Peter „Markt. Macht. Moral.“ Interview in Brückenbauer – Wochenzeitung der Migros, Nr. 46, Limmatdruck AG (12.11.2002)
- ULRICH, Peter: „Der entzauberte Markt“, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau (2002)
- WILLENBROCK, Harald: „Was kostet die Welt?“ in brand eins (02/03)
- KERSTING, Wolfgang: „Ethischer Kapitalismus? Probleme der Wirtschaftsethik“ in „Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend“, Frankfurt am Main (1997)
Foto: .marqs | photocase.com
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