Nachdem die Menschen über Jahrhunderte vor allem als Untertanen gelebt haben, war es eine Befreiung, dass sie vor rund 80 Jahren endlich zu Konsumenten wurden. Doch die Zeit der Konsumenten geht zu Ende, meint der Autor Jon Alexander. Wir müssten lernen, als demokratische Bürgerinnen und Bürger zu leben. Denn die Lösung für alles, sind wir alle, wie sein Buch „Citizens“ im Untertitel sagt.
Nach Jahrhunderten als unterwürfiger Untertan, was es toll, endlich mal selbst König zu sein – König Kunde. Diesmal haben wir uns bedienen lassen. Die Unternehmen haben versucht, jeden unserer Wünsche zu erfüllen. Natürlich waren wir auch Bürgerinnen und Bürger – die dominanten Erzählung sei aber die des Konsumenten gewesen, so Jon Alexander.
Organisationen, die keine Unternehmen waren, haben versucht, diese Art zu arbeiten zu übernehmen. Selbst die Parteien haben versucht, Politik zu Dienstleistung zu machen – zu „liefern“. „Was wollen wohl die Bürgerinnen und Bürger?“ Meinungsumfrage haben oft die Richtung vorgegeben. Und die Menschen haben sich daran gewöhnt: „Was macht ihr denn für mich,“ war eine häufige Frage.
Dabei sind doch gerade Parteien Organisationen für Bürgerinnen und Bürger, die ihre eigenen Ideen einbringen wollen. Es geht ihnen auch um grundsätzliche Fragen, um gesellschaftlichen Zusammenhalt, um Veränderung und nicht nur um die Wahl zwischen blauen und weißen Schuhen.
Beispiel: „National Trust“
Viele Organisationen sind auf diese Art hohl geworden, erklärt Jon Alexander. Die Menschen haben ihre Bindung dazu verloren und wenn jemand anderes ein besseres Angebot macht, sind sie weg.
Als Beispiel führt er den englischen „National Trust“ an. Diese englische Stiftung kümmert sich um große Teile des britisches Natur- und Kulturerbes. Sie wurde im 19 Jahrhunderts noch ganz im „Untertanen“-Modus von reichen Gönnern gegründet, die die Schönheit des Landes dem einfachen Volk zugänglich machen wollte.
Billig! Billig!
Im Laufe der Zeit wurde die Organisation immer größer und der Konsumenten-Gedanke begann um sich zu greifen. Am Ende hatte der National-Trust mehrere Millionen Mitglieder. Nur hatten die keinerlei Bindung zum National Trust.
Für den Preis von drei regulären Eintrittskarten konnte man eine Jahreskarte bekommen. Oft wurde die dann aber nicht erneuert, wenn die Leute ihre Sehenswürdigkeiten abgeklappert hatten. Außerdem stellte man fest, dass das Publikum nicht mehr „das einfache Volk“ war, sondern eher das Bildungsbürgertum. Marketing und Merchandise war wichtiger als der Erhalt des Erbes. Die Stiftung war wirtschaftlich erfolgreich, verfehlte aber ihr Ziel.
Unter der Hilfe von Jon Alexander und seiner Organisation des „New Citizen Project“ hat sich der National Trust wieder den Menschen als Bürgerinnen und Bürger zugewandt:
- Aus den Aufsehern vor Ort wurden Führerinnen und Führer.
- Man stellte fest, dass Menschen eine stärkere Bindung zur Natur ausbilden, wenn sie bis zum zwölften Lebensjahr viel in der Natur sind. So entwickelte der Trust ein Handbuch „50 Dinge, die du tun musst, bevor Du 11 3/4 bist“: Vom Baumklettern bis zum Backen eines Schlammkuchens.
- Der Trust machte seine Konservierungsarbeit öffentlich. Die Menschen konnten dabei zuschauen, wie die Gebäude restauriert wurden.
Die Zahl der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer stieg rasant. Der National Trust war wieder auf seiner Spur – als Bürgerorganisation.
Die Bürgergesellschaft
Von dieser Art hat Jon Alexander viele Beispiele. Die Menschen werden als mündige Bürgerinnen und Bürger ernst genommen. Es geht dabei nicht nur darum, die Leute zu treuen Kundinnen und Kunden zu machen, sondern darum, sie zum Teil der Organisation zu machen. Sie haben echte Möglichkeiten zur Mitbestimmung.
Jon Alexander erzählt von dem Bürgerrat, der in Irland den Durchbruch bei der Debatte um das Abtreibungsverbot gebracht hat. Seit Jahrzehnten war das Thema festgefahren. Abtreibungen waren strikt verboten. Die Parteien steckten in ihren Gräben fest. Dann wurden 99 Personen zufällig, aber repräsentativ ausgewählt, um über dieses Thema zu diskutieren.
An gerade einmal fünf Wochenenden konnten sie mit Expertinnen und Experten, aber auch mit Betroffenen sprechen und untereinander in kleineren Gruppen diskutieren. Alle Diskussionen fanden öffentlich statt – die gesamte Gesellschaft konnte der Gruppe dabei zuschauen, wie sie sich eine Meinung bildete. Am Ende machte sie einen Vorschlag, der Grundlage der Volksabstimmung und dann mit großer Mehrheit angenommen wurde.
Natürlich sind in der Diskussion keine wirklich neuen Argumente vorgebracht worden. Aber die ganze Gesellschaft hat sich endlich einmal Zeit genommen, dieses Thema ernsthaft zu besprechen.
Ich war bisher immer skeptisch bei Thema „Bürgerräte“. Parlamente und Gemeindevertretungen sind doch auch schon Bürgerräte! Aber wenn so ein Gremium hilft, eine gesellschaftliche Diskussion zu fokussieren, dann kann das immer mal wieder sehr hilfreich sein. Die Diskussion über die Mobilitätswende beispielsweise ist so verkorkst, dass ich mir vorstellen könnte, dass das Sinn ergibt.
Lust auf Beteiligung
Insgesamt ist „Citizens“ ein hoffungsvolles Buch, voll mit Beispielen für engagierte Menschen, die ihre Welt ein Stück besser machen. Ich glaube, dass wir nicht darum herum kommen, einander stärker als Bürgerinnen und Bürger zu betrachten. Die Menschen müssen einen Einfluss auf alle wesentlichen Bereiche ihres Lebens haben. Sonst sind sie Untertanen oder Konsumenten. Diese Machtlosigkeit ist, was sie in die Arme von Populisten treibt.
„Citizens“ ist im März 2022 bei Canburg Press erschienen und kostet 26 €.
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