Eine Gesellschaft in der zählt, was Du kannst und was Du leistest und nicht wer Deine Eltern sind. Das klang lange Zeit sehr vielversprechend. Jetzt zeigt sich mehr und mehr die Kehrseite der Meritokratie. Der US-Philosoph Michael Sandel hat ein Buch darüber geschrieben, wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt.
„Arbeit hat sowohl mit Wirtschaft zu tun als auch mit Kultur. Sie ist eine Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und auch eine Quelle sozialer Anerkennung und Wertschätzung.“
– Michael Sandel
Zweifellos war die alte Klassengesellschaft nicht gut: Kinder von Arbeitern blieben Arbeiter. Kinder von Aristokraten konnten auch als Flitzpiepen abgesichert durchs Leben stolzieren. Die führenden Positionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft waren ihnen sicher.
Es war deswegen nicht ganz abwegig, sich zu überlegen, dass es fairer sein könnte, wenn persönliche Leistung und nicht die Abstammung Maß der Ding wäre. Doch bereits in den 1950er Jahren warnte der dystopische Roman „The Rise of the Meritocracy“ vor den absehbaren Auswirkungen.
Die Leistungsgesellschaft ist dann eine Gesellschaft, die sagt, dass Du erreichen sollst, was Du kannst, wenn Du hart dafür arbeitest. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass diejenigen, die nichts erreichen, auch nichts verdient haben. Ihnen fehlte offensichtlich die Fähigkeit oder der fest Wille, etwas aus sich zu machen.
Die Gewinner haben die Moral auf ihrer Seite
So eine Haltung führt leicht dazu, dass die wirtschaftlichen Profiteure, auch noch die Moral auf ihrer Seite haben: Das was Du hast, hast Du Dir selbst verdient. Das hätte jeder andere auch erreichen können – haben sie aber nicht.
Michael Sandel zeichnet die Geschichte der Ideologie der Leistungsgesellschaft nach. In den USA begann sie in den 1960er Jahren, als ein Ivy-League Hochschuldirektor es satt hatte, dass an seiner Universität sich die Flitzpiepen der Oberschicht ein buntes Leben machten.
Er führte des SAT-Test an seiner Hochschule ein, um die Aspirantinnen und Aspiranten auf ihre Intelligenz zu testen. Andere Schulen folgten seine Beispiel und bald erarbeiteten sie sich den Ruf, dass dort nur die Besten der Besten studierten.
Doch faktisch testen auch die SAT-Tests nicht rein die Intelligenz der Menschen. Man kann die Tests üben und wer genug Geld bezahlen kann, bekommt hervorragenden Vorbereitungsunterricht. Zusätzlich können reiche Eltern ihre Flitzpiepen über Spenden durch die Hintertür in die Universitäten bringen und trotzdem den Schein wahren, nur die eigene Leistung habe sie dort hin gebracht.
So wurde der Abschluss an diesen Universitäten zum ultimativen Ausweis von der eigenen Leistung – nicht nur von einer guten Bildung. So eine Auszeichnung wollten sich auch viele andere Eltern für ihre Kinder nicht entgehen lassen und so kam es zu einem umfangreichen Bestechungsskandal. Geld kauft dann auch noch der Leistungsgesellschaft den Spitzenplatz.
Gerechte Start-Chancen
Nach und nach sickerte die Ideologie der Leistungsgesellschaft auch in den Rest der Gesellschaft und startete durch zum globalen Siegeszug. US-Präsident Ronald Reagan und UK-Premierministerin Margaret Thatcher passte sie gut ins Konzept. Aber erst die Mitte-Links-Regierungen von Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder gaben ihnen ihre endgültige Form.
Leistung sollte sich endlich lohnen. Wer etwas drauf hatte, sollte etwas aus sich machen. Die Politik wollte für gute „Start-Chancen“ sorgen, weil klar war, dass sonst natürlich die Kinder reicher Eltern unfaire Vorteile hätte. „Aufstieg durch Bildung“ war das Motto. Gleichzeitig wurde der Finanzkapitalismus und die markt-getriebene Globalisierung auf die Menschen losgelassen.
Doch was wird aus den Menschen, denen kein „Aufstieg“ gelingt?
Michael Sandel weist in einem Exkurs darauf hin, dass sowohl der Vordenker des Neoliberalismus, F.A. Hayek, als auch der Vordenker der Gerechtigkeitstheorie, John Rawls, davon ausgehen, dass die Menschen nicht automatisch bekommen, was sie verdienen – nur das, was der Markt hergibt.
„Es sollte freimütig zugegeben werden, daß die Marktordnung keinen engen Zusammenhang zwischen subjektivem Verdienst oder individuellen Bedürfnissen und Belohnungen zustande bringt. Sie arbeitet nach dem Prinzip eines Spiels, in dem Geschicklichkeit und Chancen kombiniert werden und bei dem das Endergebnis für jeden einzelnen…von völlig außerhalb seiner Kontrolle liegenden Umständen abhängen kann …“
– F.A. Hayek
Leistungsgesellschaft oder nicht: Alle Menschen werden mit unterschiedlichen Talenten geboren. Selbst wenn die Schule es schaffen würde alle Unterschiede der familiären Förderung auszugleichen, sind einige Talente zufällig in unserer Zeit mehr wert als andere.
Fußball zu spielen, kann talentierte, hart arbeitende Menschen in Deutschland sehr reich machen. Noch vor 50 Jahren war das nicht so. Wer dagegen Faustball spielt, kann noch so gut sein, noch so hart trainieren – alleine mit dem Sport wird er nicht reich.
Was heißt hier „Aufstieg“?
Die Leistungsgesellschaft hat aus dem Leben einen Wettbewerb gemacht. Doch was sagt das den Menschen: Wenn Du nicht ganz oben bist, dann hast Du Dich nicht genug angestrengt. Aber sind Pflegekräfte tatsächlich gescheiterte Chefärztinnen? Sind Verkäuferinnen gescheiterte Filialleiterinnen? Was ist, wenn Du zufrieden mit Deinem Job bist? Was ist, wenn Du gar keine Arbeit findest? Darüber hat Anne Mayr ein tolles Buch geschrieben.
Und was ist, wenn Du irgendwo wohnst, wo es gar nicht so viele Möglichkeiten gibt? Bist Du dann zurückgeblieben und daran gescheitert, in die Großstadt zu ziehen? Sind Menschen in Sachsen daran gescheitert, in den Westen zu ziehen?
Und dann kam Trump
Michael Sandel meint, die Leistungsideologie habe Gesellschaft in Menschen geteilt, die sich als Gewinner betrachten und solche, die sich als Verlierer fühlen. Das habe die Wahl von Donald Trump und den wachsenden Populismus erst möglich gemacht. Donald Trump hat dieses Gefühl aufgegriffen und einen Weg gezeigt, wie sich die „Verlierer“ wieder stark fühlen können.
Als nächstes wurde die Gesellschaft eingeteilt in „offen“ und „geschlossen“. Die einen wurden dann die weltoffenen Gewinner in den großen Städten und die anderen die engstirnigen, rassistischen Verlierer auf dem Land. So spaltet sich die Gesellschaft immer mehr. In den USA viel stärker als in Deutschland. Aber auch hier merkt man die Auswirkungen.
Mehr Gleichheit
Die Französische Revolution hatte sich „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auf die Fahnen geschrieben. Noch bis 1994 versprach das deutsche Grundgesetz die „Gleichheit der Lebensverhältnisse“. „Gleichheit“ hat sehr an Attraktivität verloren, weil es mit der Konformität in der DDR assoziiert wird. Es klingt nach Gleichheit der Ergebnisse: Egal, wie sehr Du Dich anstrengst, Du wirst es über ein bestimmtes Level nicht schaffen, das alle erreichen.
Deswegen hat der Neoliberalismus die Gleichheit auf die Gleichheit vor dem Gesetz reduziert. Das ist aber nicht die Gleichheit, die gemeint ist. Es ist das Prinzip der Demokratie, dass die Bürgerinnen und Bürger einander als Gleiche – auf Augenhöhe – begegnen. Das hat mit dem Respekt vor den Anderen als Menschen zu tun. Mit der Anerkennung ihrer Beiträge für die Gesellschaft.
Michael Sandel spricht deswegen von der „Beitragsgerechtigkeit“ – es kann einer weitsichtigen Politik nicht nur darum gehen, die Früchte einer florierenden Wirtschaft einzusammeln und gerecht zu verteilen. Wir müssen es auch schaffen, dass alle Menschen einen anerkannten Beitrag zur Gesellschaft leisten können. Er nennt es die „Würde der Arbeit“.
Da seh ich tatsächlich eine große Herausforderung zum Umdenken bei vielen Menschen, wenn ich mir anschaue, wie oft über die Arbeit Anderer gesprochen wird. Arbeit ist in den letzten Jahrzehnten in einigen Bereichen extrem abgewertet und prekarisiert worden.
Die Debatte über das Bedingungslose Grundeinkommen, spricht immer wieder vom Ende der Arbeit. Die Technik-Enthusiasten erklären gerne, welche Jobs in Zukunft alle überflüssig sein werden. Auch in der Klimadebatte gibt es solche, die bestimmte Arbeiten für überflüssig oder gar schädlich erklären. Die New-Work-Fans wollen die Menschen noch leistungsfähiger in der globalisierten Welt machen. Es gibt den herablassenden Blick von der Großstadt in die Kleinstädte und Dörfer. Es gibt den herablassenden Blick vom Westen auf den Osten.
Es geht Michael Sandel nicht darum, das alte Klassensystem wiederherzustellen, weil es so viel besser war, als die Kinder von Arbeitern Arbeiter blieben. Und die Kinder von Aristokraten auch als Flitzpiepen abgesichert durchs Leben stolzieren konnten. Damals konnten die Arbeiterkinder zumindest noch stolz sagen: „Es liegt nicht an mir, dass ich Arbeiter bin, aber ich mach das Beste daraus.“
Es geht nicht darum Aufstieg zu behindern. Aber es geht auch nicht darum, ihn zu erzwingen. Es geht darum, dass Menschen ein anständiges Leben führen können, egal was sie sind und wo sie leben. Dazu wird man den Markt wieder stärker zurückfahren müssen. Die Finanzbranche muss vom Casino wieder mehr zum Motor der Realwirtschaft werden. Und das Studium darf nicht das Maß aller Dinge sein.
Dieses Umdenken ist eine große Herausforderung. Aber mich stimmt zuversichtlich, dass ich diesen Buchtipp ausgerechnet vom SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz habe, der dazu sagte „Jede Arbeit hat Würde. Und es geht nicht um die, ‚die sich für was Besseres halten’ “.
„Vom Ende des Gemeinwohls“ ist 2020 im S. Fischer Verlag erschienen, hat 448 Seiten und kostet in der gebundenen Ausgabe 25€.
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