„Niemand ist überflüssig – er kann immer noch als schlechtes Beispiel dienen“, lautet ein geflügeltes Wort. Die Autorin Anna Mayr sagt, die Aufgabe von Arbeitslosen ist genau das: Die Verkörperung der Bedrohung, damit Menschen schlecht bezahlte, ungesunde Arbeit annehmen. Dabei gilt die Menschenwürde auch für Menschen ohne Arbeit.
Anna Mayr ist die Tochter von langzeitarbeitslosen Eltern. Sie musste erfahren, wie sie aussieht, die viel zitierte „Chancengleichheit“ in Deutschland. Schon als Kind behandelt unser Sozialsystem sie, als sei sie selbst arbeitslos und selbst Schuld daran.
Wir gestehen Arbeitslosen nur das Minimum zu und selbst das kann das Jobcenter kürzen, wenn sie Termine beim Amt verpassen. Mit diesem Minimum haben die Kinder von Arbeitslosen natürlich nicht die gleichen Chancen, wie andere Kinder. Schon gleich beim Start ins Leben.
„Die Elenden“
Arbeitslosen vertrauen wir nur 432€/Monat an. „Weil die mehr Geld ohnehin nur für Alkohol und Zigaretten ausgeben,“ lautet das Vorurteil.
Die Miete zahlt das Amt lieber für die Arbeitslosen. Wer sein Kind zum Sportverein schicken will, muss die Unterstützung dafür extra beantragen. Eine Sportausstattung gibt es dafür nicht. Den Musikunterricht kann man davon bezahlen. Das Instrument nicht.
Rund um Arbeitslose wird jede Menge Geld ausgegeben – für fragwürdige Bildungsmaßnahmen und die Behandlung der sozialen Folgen von Armut. Statt das Geld einfach den Menschen zu geben, damit sie nicht mehr so arm sind.
Arm sein ist anstrengend und es verengt den Blick. In Rutger Bregmans Buch habe ich gelernt, dass Armut den gleichen Effekt auf den die Intelligenz hat, wie Schlafentzug. Der Mangel an Geld überdeckt alle anderen Fragen, so wie Zeitdruck bei der Arbeit uns einen Tunnelblick für die dringendste Aufgabe gibt – oder uns überfordert. Armut erhöht das Risiko von Sucht und Problemen mit Familie und Gesundheit. Aber steuern selbst Arbeitslose zum Bruttoinlandsprodukt bei: Als Werkstück von Sozialarbeit.
„Schröder besiegt die SPD“
Als Sozialdemokrat ist das Kapitel über die Entstehung von Hartz 4 eine schwierige Lektüre. Aber es ist richtig gut, wie Anna Mayr die Geschichte – auch den Zeitgeist von damals nachzeichnet. „Der Markt regelt es besser,“ war der mediale und gesellschaftliche Tenor.
Ich erinnere mich zum Beispiel noch an diese täglichen Nachmittags-Talkshows, in denen es ständig um „das Leben in der sozialen Hängematte“ ging. Da stritt sich dann der bayerische Bürger mit dem Berliner Punk, der erklärte, wie cool es sei von Staatsknete zu leben.
Am Ende saßen bei den Verhandlungen auch Grüne, CDU und FDP mit am Tisch und es ging um ein riesiges Paket von Maßnahmen inklusive Steuersenkungen. Es ging in nächtelangen Verhandlungen dann nicht mehr um die Menschen, die dann mit dem neuen Arbeitslosengeld leben müssten, sondern nur darum, wer was zugesteht um am Ende zuzustimmen.
Arbeitslose als abschreckendes Beispiel
Klar wird, dass es nie die ganze SPD war, die diesem Kurs gefolgt ist. Widerstand hätte bedeutet, dass die SPD ihren eigenen Kanzler absägt.
Seither aber dienen Arbeitslose als abschreckendes Beispiel: „Wenn du nicht so werden willst, wie die, solltest Du lieber jeden Job annehmen.“ Das hat den Arbeitgebern ermöglicht die Löhne zu drücken und die Arbeitsstandards zu senken.
Es hat aber auch die Gesellschaft gespalten und die Mittelschicht unter Druck gesetzt. Wir sagen nicht mehr: „Jemand ist von Arbeitslosigkeit bedroht,“ sondern „von Hartz 4″ – Wieso ist ein soziales Sicherheitssystem eine Bedrohung?
Schlimm finde ich, dass wir heute so wenig über Arbeitslosigkeit und Armut sprechen und dass wir nicht mit Arbeitslosen sprechen, darüber was sie eigentlich brauchen.
Auch Anna Mayr ist keine Arbeitslose. Sie ist nur die Tochter von arbeitslosen Eltern. Sie versucht zu erklären, was arbeitslose Menschen bewegt oder vielmehr, was sie lähmt.
Was tun?
Das Bedingungslose Grundeinkommen sei keine Lösung, findet Anna Mayr. „Das bedingungslose Grundeinkommen ist in manchen Ausprägungen nichts als eine Süßigkeit, mit der man der Mittelschicht schmackhaft machen will, dass Arbeitslose etwas mehr Geld bekommen – gepaart mit der Vereinfachung von Verwaltung.“
Stattdessen sollten wir den Arbeitslosen zutrauen, dass sie selbst Expert.innen ihres eigenen Lebens sind. Zum einen sollte man ihnen einfach mal vertrauen, wenn sie sagen, dass sie Arbeitslosengeld benötigen und nicht die komplette Offenlegung der finanziellen Verhältnisse erzwingen.
Dann sollte man ihnen orientiert am Einkommensteuerfreibetrag 700–800€ im Monat pro Familienmitglied auszahlen. So
könnten sie sich selbst eine Miete leisten und selbst entscheiden, wie viel sie dafür ausgeben wollen. Darüber hinaus sollte es einen großen öffentlichen Sektor geben, der Menschen aufnimmt und sie fortbildet.
Solidarisches Bürgergeld
Grob gesagt, ist das auch, was sich die SPD in den letzten Jahren als Ziel gesteckt hat. So hat zum Beispiel der Landesparteitag in Schleswig-Holstein im letzten Frühjahr beschlossen:
Wir sind überzeugt, dass eine gute Arbeit wichtig für alle Menschen ist. Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass jeder Mensch eine Tätigkeit bekommt, die zu ihm passt, und der er gerecht werden kann. Dazu gehört auch, dass die Menschen sich darauf verlassen können, dass sie auskommen, auch wenn sie den Job verlieren. Existenzminimum ist Existenzminimum – davon gibt es nichts zu kürzen!
Bei der Einführung des Bürgergeldes als neues Existenzminimum muss auch die Höhe neu berechnet werden. Deshalb fordern wir ein Bürgergeld ohne Sanktionen. Das Bürgergeld soll auch nicht mehr gekürzt werden, wenn Kinder selbst Einkommen aus geringfügiger Beschäftigung oder Ausbildung haben. Der Transferentzug bei eigenem Einkommen aus Arbeit soll gegenüber den derzeitigen Regelungen reduziert werden. Wer selbst keinen regulären Job findet, bekommt vom Staat ein Angebot zur Teilhabe am Arbeitsleben: Eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst, die etwas für die Gesellschaft leistet oder Lohnzuschüsse an Arbeitgeber, die Menschen beschäftigen, die schon etwas länger arbeitslos sind.
Es gibt genug Arbeit. Wir müssen sie nur bezahlen und zwar auf Basis von Tariflöhnen. Wir kommen so von einer Arbeitslosen- zu einer Arbeitsversicherung mit dem Ziel alle vor Arbeitslosigkeit zu schützen und Teilhabe für alle zu ermöglichen.
Die Fristen für das Arbeitslosengeldes werden verlängert, niemand der nach vielen Jahren Berufstätigkeit unverschuldet in Arbeitslosigkeit gerät, muss Angst haben, dass er nach einem Jahr alles verliert.“
So ähnlich hat das auch der Bundesparteitag im Dezember beschlossen. Das Vorbild ist das „Solidarische Grundeinkommen“, das Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller vorgeschlagen hat. Ich fand das damals überzeugend, als Michael Müller die Idee vorgestellt hat: Wer selbst keinen Job findet, bekommt einen im öffentlichen Dienst, bezahlt nach Tarif. Wer nicht arbeiten kann oder will, bekommt trotzdem ein Bürgergeld, von dem man einigermaßen Leben und Teilhaben kann. Wenn das tatsächlich besser ist, braucht die SPD jetzt nur noch die Mehrheiten für die Umsetzung…
Bewegende Lektüre
Ich hab beim Lesen immer wieder gedacht: „Was für ein tolles Buch!“ Anna Mayr schreibt so eindrücklich, wie sie als Kind in die Widersprüche unseres Sozialsystems verstrickt wurde und wie das System, das ihr helfen sollte, sie häufig ausgebremst hat. Man nimmt ihre Eltern wahr als die Menschen, die sie sind. Man versteht, dass hinter den Arbeitslosenzahlen echte Menschen mit eigenen Gedanken und Wünschen stecken. Menschen, die im Jobcenter arbeiten, machen extra Kurse für diese Erkenntnis, habe ich bei Anna Mayr gelernt. So sehr entmenschlicht das System die Arbeitslosen.
Das ist etwas, was ich in letzter Zeit vermehrt wahrnehme: Menschen wollen aus ihren Schubladen heraus. Wir haben uns die Gesellschaft so schön einfach strukturiert: Der Standard ist der weiße Mittelklasse-Mann. Und dann gibt es die anderen: Frauen, Ausländern, Migranten, Arbeitslose usw.
Kübra Gümüşay schreibt zum Beispiel darüber, dass sie nicht immer die Kopftuchfrau sein will, die das Phänomen Kopftuchfrau erklären muss. Anna Mayr schreibt darüber, dass Arbeitslose als Menschen – nur halt ohne Arbeit – angesehen werden wollen.
Markus Gabriel schreibt darüber, dass wir Menschen nicht in Schubladen stecken dürfen. „Menschenrecht“ bedeutet zuallererst das Recht, als Mensch anerkennt zu werden. Das gilt auch für Arbeitslose. Das gilt für jeden Menschen – auch wenn es schwierig ist, über unsere Stereotypen und Vorurteile hinaus zu denken.
Mich hat das Buch sehr beeindruckt. Wer die Welt gerechter machen will, sollte „Die Elenden“ von Anna Mayr lesen. Das Buch hat 206 Seiten, ist im Hanser-Verlag erschienen und kostet 20€.
Video
Erst wenn Du das Video startest, werden Daten an YouTube übermittelt. Siehe Datenschutzerklärung
Telegram
Ich würde mich freuen, wenn Du meinen Telegram-Kanal abonnierst. Dort erfährst Du immer, wenn ich etwas gebloggt habe. Dazu gibt es alle paar Tage die interessantesten Lesetipps, die mir über den Weg laufen.
Schreibe einen Kommentar