Warum lernen wir in der Schule Rechnen, Schreiben, Lesen aber nicht denken? Warum ist „Ethik“ das Alternativ-Fach zu Religion? Denn Philosophie ist die Kunst des Denkens – das sollten auch religiöse Menschen lernen dürfen. Der Philosoph Markus Gabriel hat mit „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ ein leidenschaftliches Plädoyer für die Philosophie als Kompass im Alltag geschrieben.
„Moral“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch ein schweres Wort. Das klingt nach den bleiernen Regeln der Alten. In der Philosophie klingt das viel leichter: Es gibt das Gute im Leben. Und das Gute zu tun, ist moralisch. Wer will nicht Gutes tun?
Es ist nur oft nicht so ganz einfach zu sagen, was gut ist und was böse. Zumal der Kulturrelativismus und schräge Interpretationen der Postmoderne dafür gesorgt haben, dass wir nicht mehr wissen, ob wir dem eigenen moralischen Kompass trauen dürfen.
Ethik ist universal.
Dürfen wir Hinrichtungen in Saudi-Arabien verurteilen oder ist das nun einmal die dortige Kultur und dürfen wir nicht so tun, als sei unsere Kultur der Saudi-Arabischen Kultur überlegen? Ist nicht alles Ansichtssachen?
Markus Gabriel sagt „Nein!“ – Was gut und was böse ist, ist universal. Es gilt überall. Machtstrukturen verdecken das oft nur. Menschen hinzurichten, ist immer böse. Auch Menschen in Saudi-Arabien wissen das – fragt man die zum Tode verurteilten. Diese Menschen können das nur nicht durchsetzen.
Es gibt nämlich nicht „die Kultur“ in Saudi-Arabien – oder irgendwo. Jeder Mensch ist individuell. Deswegen seien Begriffe wie „Kultur“, „Gesellschaft“ oder „Identität“ auch Denkfallen. Sie lassen sich nicht definieren. Was ist die deutsche Kultur? Was ist die bayerische Kutur? Irgendwie ahnt man, dass es da doch irgendwas geben müsste aber: Was ist es, was alle Deutschen oder alle Bayern ausmacht? Nichts. Dazu unterscheiden wir uns alle zu sehr.
Deswegen ist die deutsche „Leitkultur“-Debatte so perfide. Sie tut so, als gäbe es allgemeingültige, aber ungeschriebene Gesetze, die echte Deutsche einhalten. Wie unfair ist das? Diese Gesetze sind so vage, dass man sie nicht einmal aufschreiben kann. Aber wer dazu gehören will, soll die trotzdem irgendwie erkennen und sich daran halten.
Moralische und nichtmoralische Tatsachen
Das „Selbst denken“ ist ja gerade in Mode. Horden von Corona-Skeptikern ziehen durch die reale und virtuelle Welt und fordern die Menschen auf, nicht mehr den Expertinnen und Experten zu glauben sondern selbst zu denken. Was sie damit meinen: „Vergesst die Fakten! Vergesst, wie Wissenschaft funktioniert. Denkt Euch selbst aus, wie die Welt sein könnte. Hier ist unser Vorschlag dazu.“
Doch moralische Entscheidungen hänge immer von den Fakten ab. Markus Gabriel unterscheidet zwischen moralischen und nichtmoralischen Fakten.
Moralische Tatsachen sind all die Dinge, die wir als gut oder böse erkannt haben: Menschen zu töten ist böse. Menschen als Gleiche zu betrachten ist gut. Daraus kann man Dinge ableiten.
Nichtmoralische Tatsachen ist das Faktenwissen über die Welt: Es regnet. Es gibt einen menschengemachten Klimawandel. Flugverkehr hat einen großen Anteil am Klimawandel. Aus diesen nichtmoralischen Tatsachen kann man moralische Schlüsse ziehen. Dann ist es verwerflich zu fliegen.
Wenn wir uns auf Basis neuer Fakten auch neu überlegen, was moralisch daraus folgt, dann ist das moralischer Fortschritt. Als den meisten Menschen klar war, dass keine Fakten gibt, die dafür sprechen, dass man gleichgeschlechtliche Paare anders behandeln sollte als Mann/Frau-Paare, war der Weg frei für die „Ehe für Alle“. Ein moralischer Fortschritt.
Die Corona-Pandemie schmeißt gerade vieles durcheinander und wir können die Chance nutzen und neue, wegweisende Entscheidungen treffen. Wollen wir eigentlich, dass nach Corona alles wieder so wird, wie vorher? Oder gibt es Dinge, die wir schon lange als verwerflich erkannt haben und jetzt endlich mal über Bord schmeißen können? Moralischer Fortschritt ist möglich!
Das ist die Hoffnung, die Markus Gabriel hat und das ist die Hoffnung, die er mir gemacht hat. „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ ist im Ullstein Verlag erschienen, hat 368 Seiten und kostet 22 Euro.
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