Vielleicht ist Künstliche Intelligenz schon heute stärker als unsere größten Schwächen. Normalerweise messen wir die Qualität Künstlicher Intelligenz immer an unseren Stärken. „The Social Dilemma“ wirft die Frage auf, ob die Algorithmen von Facebook & Co. nicht vielmehr unsere Schwächen austricksen.
Die erfolgreichsten Apps funktionieren wie Glücksspiele: Immer wieder checken wir unser Smartphone, ob es nicht etwas Schönes, Neues in unserem Netzwerk gibt. Ein Like von einer besonderen Person oder ganz viele Likes von ganz vielen Menschen. Ein schönes Foto. Ein kleiner Einblick in ein fremdes Leben. Eine witzige Geschichte.
Refresh: Niete. Refresh: Niete. Refresh: Gewinn!
Nicht jedes Mal gibt es eine Belohnung. Manchmal ist es auch nur langweilig auf Facebook, Twitter, Instagram. Doch dann passiert wieder etwas und das Dopamin belohnt das Gehirn.
Persuasive Design (etwa: „überredendes Design“) nennen das die Einen. Die Anderen nennen es Addictive Design („süchtig machendes Design“). Die Anbieter wollen, dass die Menschen möglichst viel Zeit mit ihren Apps verbringen, damit sie möglichst viele Daten von sich preis geben.
Denn jede Aktivität wird protokolliert und einerseits dazu benutzt, das Netzwerk noch spannender oder süchtig machender zu gestalten. Andererseits wird aufgrund der festgestellten Vorlieben Reklame angezeigt. Mit dem Vermieten von Zielgruppen verdienen die Netzwerke ihr Geld. Für die Werbetreibenden ist es attraktiv immer genauer erkennbare Gruppen von Menschen ansprechen zu können.
Aufregend ist, was aufregt
Dieses süchtig machende Design spielt mit unseren größten Schwächen. Wir können nicht anders, als auf die rote Benachrichtigungs-Blase mit der Zahl drin zu klicken. Es macht Spaß, immer wieder an der Timeline zu ziehen, wie an Arm eines Glücksspielautomaten, um zu sehen, ob nicht irgendwas passiert ist.
Schon länger gibt es Stimmen, die es für unmoralisch halten, wenn Unternehmen uns austricksen, um uns möglich viel Lebenszeit abzuluchsen, um unsere Aufmerksamkeit an Werbetreibende zu verkaufen.
Kritisiert wurde immer wieder, dass die spannendsten Geschichten oft auch die größten Aufregerthemen sind. Wer erst einmal auf diese Aufreger eingestiegen ist, bekommt dann immer mehr davon in die Timeline. Könnte das der Grund für die große Spaltung in der Gesellschaft sein? Denn in der Realität gibt es dafür kaum einen sichtbaren Grund.
Kronzeugen sagen aus
Jetzt hat sich ein Netflix-Dokudrama diesem Thema angenommen. In „The Social Dilemma“ kommen diejenigen zu Wort, die sich über Jahre all diese Tricks für Facebook, Google, Twitter, Instagram, Pinterest & Co. ausgedacht haben – bis ihnen auffiel, wie sie selbst nicht mehr von den eigenen Apps lassen konnten.
Wie viel Zeit sollte man mit einer E‑Mail-App verbringen? Sollte sie nicht eigentlich so gut sein, dass sie einem alle Arbeit abnimmt und man möglich keine Zeit mit ihr verbringt, ist die Frage, die sich Tristan Harris stellt. Er arbeitete an Googles „Inbox“ und fasste seine Gedanken in eine Powerpoint-Präsentation, die im Unternehmen viral ging.
2015 verließ Tristan Harris Google, gründete das „Center for Humane Technology“ („Zentrum für menschengerechte Technologie“) und tritt seither als Aufklärer in dieser Sache auf.
„Harris is the closest thing Silicon Valley has to a conscience.“
Diese Interviews mit Expertinnen und Experten sind noch einmal interessanter als die mit bekannten Big-Tech-Kritikern wie Jaron Lanier. Sie erklären, wo sie die Tricks gelernt und entwickelt haben, wie sie immer mehr davon einsetzen, bis sie selbst merkten, dass es ihnen und ihren Kindern nicht gut tat.
Leben mit Addictive Design
Zwischen den Interviews gibt es die fiktive Geschichte einer US-Amerikanische Familie und ihrem Umgang mit der Technologie. Die kleine Tochter, die schon komplett für Instagram lebt. Der große Sohn, der sich im Netzwerk politisch radikalisiert und die mittlere Tochter, die versucht, ohne Handy auszukommen. Die Eltern stehen dem ganzen ziemlich verständnislos gegenüber. Die Künstliche Intelligenz wird von drei Männern dargestellt, die immer wieder versucht, die Aufmerksamkeit des Sohns einzufangen und zu steuern.
Diese Spielszenen sind sicher nicht die Stärken des Films. Aber vielleicht versteht man mit ihnen besser, wie die Algorithmen Menschen manipulieren: ohne dass jemand Böses im Sinn hat, stürzen sie doch ganze Gesellschaften in den Wahn.
Ich hatte schon vor zwei Jahren eine ganze Reihe Apps vom Smartphone verbannt – vor allem Facebook und Twitter. Nach „The Social Dilemma“ habe ich auch meinen Mastodon-Client, Reddit und die letzte News-App vom Handy geschmissen. Bei den restlichen Apps bin ich durch die Einstellungen geklettert und habe alle überflüssigen Benachrichtigungen ausgeschaltet.
Auf dem Handy habe ich jetzt grundsätzlich nur noch E‑Mail (ohne Benachrichtigungen), ein paar Messenger. Benachrichtigt werde ich jetzt nur noch, wenn tatsächlich ein Mensch etwas von mir will. Das führte zum einen dazu, dass das Handy irgendwo liegen kann und nicht mehr neben mir liegen muss.
Kürzlich hat eine Studie sogar festgestellt, dass die kognitiven Fähigkeiten von Menschen nachlassen, wenn das Handy einfach nur neben ihnen liegt. Das passiert mir nicht mehr. Ich kann mich besser auf Dinge konzentrieren und ich komm noch mehr zum Lesen.
Leute, schaut diesen Film! Und passt auf: Natürlich gehört Netflix auch zu dieser Kategorie Tech-Firmen. Stoppt am Ende des Films, bevor Euch gleich der nächste Filmvorschlag am Bildschirm hängen lässt.
Trailer
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Links
- Fast Company: This Netflix doc tries to explain everything wrong with social media right now
- Refinery29: The People Who Created Facebook & YouTube Are Sorry
- Forbes: Documentary Filmmaker Jeff Orlowski Uncovers Invisible Threat With ‘The Social Dilemma’
- VentureBeat: The Social Dilemma: How digital platforms pose an existential threat to society
- Vanity Fair: This Documentary Will Make You Deactivate Your Social Media
- Indiewire: A Horrifyingly Good Doc About How Social Media Will Kill Us All
- Hollywood Reporter: ‘The Social Dilemma’ Film Review
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