„Ich habe mich gefragt, ob das Motto für unsere Zeit lauten sollte: Ich habe versucht zu leben, aber ich wurde abgelenkt.“, dachte sich der Autor Johann Hari und begab sich für drei Monate auf Digital Detox. Bei seiner anschließenden Recherche für sein Buch „Stolen Focus“, stößt er darauf, dass es nicht nur die digitalen Medien sind, dafür sorgen, dass wir uns nicht mehr konz… Oh guck mal! Ein Eichhörnchen!
Kommerzielle digitale Anwendungen wie Apps und Websites sind in der Regel nicht darauf ausgerichtet, uns das Leben zu erleichtern, sondern uns möglichst lange zu beschäftigen, weil sie nur in dieser Zeit mit unserer Aufmerksamkeit Geld verdienen können – per Reklame, klar. Das hat nicht nur die Netflix-Doku „The Social-Dilemma“ gezeigt – Shoshana Zuboff hat dem Phänomen mit „Überwachungskapitalismus“ einen Namen und eine Kritik entgegen gesetzt.
Johann Hari war das bewusst und er zog sich deshalb für einen digitalen Entzug für drei Monate in den US-Küstenort Provincetown zurück. Nur ein altes Laptop ohne Internetzugang hatte er dabei, um endlich seinen Roman zu schreiben. Er berichtet, wie er nach und nach auch andere Dinge wegließ. So hatte er sich doch einen iPod mit Musik und Hörbüchern mitgenommen, der nach zwei Wochen in der Ecke landete. Stattdessen machte er lange Spaziergänge ohne Beschallung und er bemerkte, wie sich seine Art zu Denken veränderte.
Allein die Umstellung von Online-News auf eine klassische Zeitung führte für ihn dazu, dass er nicht mehr ständig News konsumierte, um bei allen Schrecken der Welt möglichst live dabei zu sein und sich aufzuregen. Stattdessen sorgte die Zeitungslektüre für eine Perspektive und Haltung zu den Themen. Er stellte fest:
„Demokratie setzt die Fähigkeit der Bevölkerung voraus, lange genug zuzuhören, um reale Probleme zu erkennen, sie von Hirngespinsten zu unterscheiden, Lösungen zu finden und ihre Führer zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie diese nicht liefern. Wenn wir das verlieren, verlieren wir unsere Fähigkeit, eine voll funktionierende Gesellschaft zu haben. Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass diese Krise der Aufmerksamkeit zur gleichen Zeit wie die schlimmste Krise der Demokratie seit den 1930er Jahren stattgefunden hat. Menschen, die sich nicht konzentrieren können, werden sich eher zu simplen autoritären Lösungen hingezogen fühlen – und weniger wahrscheinlich klar sehen, wenn sie scheitern. Eine Welt voller aufmerksamkeitsgestörter Bürger, die abwechselnd Twitter und Snapchat nutzen, wird eine Welt der kaskadierenden Krisen sein, in der wir keine einzige in den Griff bekommen.“
Langsamkeit fördert die Aufmerksamkeit. Geschwindigkeit zerstört sie
Johann Hari hat für sein Buch mit Forschenden in aller Welt gesprochen, um herauszufinden, woher das gesellschaftliche Aufmerksamkeitsdefizit kommt und wozu es führt. Es sind nicht nur die digitalen Medien. Die ständigen Unterbrechungen bei der Arbeit führen dazu, dass wir kaum eine Stunde ungestört arbeiten können – das kostet uns mehr IQ-Punkte, als wenn wir bekifft wären.
Wir können deswegen auch keine längeren Texte mehr lesen. Dabei ist das Lesen nicht nur Zugang zu komplexeren Informationen oder als Fiktion Lehrstück für Empathie, sondern auch für viele Menschen ein guter Zugang zum „Flow-Erlebnis“ – jenem erfüllenden Zustand, den man üblicherweise dann erreicht, wenn man ohne Unterbrechungen länger an etwas arbeitet, das einem wichtig ist.
Mit dauerhafter medialer Beschallung lenken wir uns davon ab, dass unsere Gedanken ab und zu auch einfach mal wandern müssen. In der Schule gilt es als Schwäche, wenn man verträumt aus dem Fenster schaut. Tatsächlich braucht das Hirn diese „Wanderzeit“, um Dinge zu verarbeiten.
Wir schlafen durchschnittlich eine Stunde weniger als Menschen vor 80 Jahren – obwohl wir die gleichen körperlichen Bedürfnisse haben. Koffein sorgt morgens dafür, dass wir die Müdigkeit nicht bemerken. Wenn sich dann abends viele Menschen wieder mit Alkohol runter bringen, verschlechtert das zusätzlich den Schlaf. Schlaf ist eben nicht die Phase der Inaktivität. Der Körper ist hochaktiv und reinigt sich von den Einflüssen des Tages, um frisch für den nächsten Tag zu sein.
Unsere industriell hergestellten Nahrungsmittel sorgen oft dafür, dass wir keine dauerhafte Versorgung mit Energie über den Tag haben. Sie sorgt für Energiespitzen und Leistungscrashes im Anschluss.
Es fängt schon in der Kindheit an
Schon unseren Kindern gewöhnen wir viele gesunde Verhaltensweisen ab. Während früher Kinder den ganzen Tag unterwegs waren und die Eltern nur ungefähr wussten, wo sie waren, dürfen viele Kinder heute nicht mehr ohne erwachsene Personen irgendwas machen. Sie lernen nicht mehr, Dinge miteinander auszumachen. Sie lernen nicht, was ihnen Spaß macht, weil sie es nicht mehr ausprobieren können. Eltern beschweren sich, wenn Kinder nach Tennis und Fußball dann doch lieber zum Schwimmtraining gefahren werden wollen.
Schulen lassen wenig Freiraum für eigenständiges Denken und Leben. Sie wurden auch in den letzten Jahrzehnten auf immer mehr Effizienz ausgelegt, damit die Kinder besser in den Arbeitsmarkt passen. Dabei sind unsere heutigen Schulen eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Bis dahin haben Kinder spielend gelernt. Sie haben miteinander gespielt, sie haben Erwachsene nachgeahmt und sie haben dort mitgeholfen, wo sie mithelfen können.
Grausamer Optimismus
Bei der Lektüre habe ich einen neuen Begriff gelernt „Grausamer Optimismus“ (Cruel Optimism) – der beschreibt, dass tolle Lebenstipps immer so tun, als läge es nur an uns, all diese negativen Einflüsse zu ignorieren, gesund zu essen und genügend zu schlafen. Tatsache ist aber, dass in den Unternehmen im Silicon Valley, in den Nahrungsmittelkonzernen – überall die klügsten Menschen daran arbeiten, uns von einem gesunden Leben abzuhalten. Dagegen müssen wir ankämpfen und dass nicht alle, in jedem Bereich, jeden Tag schaffen, ist nur verständlich.
„So wie heute jedes Mal, wenn Sie versuchen, Ihr Handy wegzulegen, tausend Ingenieure hinter dem Bildschirm versuchen, Sie dazu zu bringen, es wieder in die Hand zu nehmen, so gibt es jedes Mal, wenn Sie versuchen, auf verarbeitete Lebensmittel zu verzichten, ein Team von Marketingexperten, die versuchen, Sie dazu zu bringen, wieder darauf zurückzugreifen.“
„It’s the economy, stupid“
Viele der beschriebenen Faktoren, die uns unkonzentriert machen, entwickeln sich länger schon als es das Internet gibt. Einer der Forschenden, mit denen Johann Hari gesprochen hat, stellte bspw. fest, dass sich die Gesellschaften bereits seit den 1880er Jahren immer kürzer mit gesellschaftlichen Themen beschäftigen.
Warum seit den 1880er Jahren? Das ist die Zeit, in der die industrielle Revolution und die kapitalistische Wirtschaftsweise international um sich griff. Es sind Probleme unserer Wirtschaftsweise, die auf ständiges Wachstum ausgelegt ist. Die hat nicht nur dafür gesorgt, dass wir unseren Planeten über seine ökologischen Grenzen hinweg ausbeuten. Sie tut das auch mit uns. „Wenn wir alle wieder so viel schlafen würden, wie unser Gehirn und unser Körper es brauchen, wäre das ein Erdbeben für unser Wirtschaftssystem, denn unser Wirtschaftssystem ist vom Schlafentzug abhängig geworden“, sagt Johann Hari.
„Stolen Focus“ ist im Oktober 2022 auch auf Deutsch als „Abgelenkt“ erschienen, hat 368 Seiten und kostet als Softcover 20€.
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