Ich habe mir vor zwei, drei Jahren vorgenommen, Artikel nur noch zu liken, teilen und zu kommentieren, wenn ich sie wirklich gelesen habe. Zu oft hatte ich daneben gelegen und bei genauerem Hinschauen hätte sich die Aufregung gar nicht gelohnt. Trotzdem bin ich gerade mal wieder darauf reingefallen.
Mit einem Tweet wie diesem fing es in meiner Timeline an: Die ZEIT lässt den Sinn von Seenotrettung diskutieren. Pro und Contra.
Die Aufregung auf Twitter und Facebook war groß. Auch ich habe mich aufgeregt – in einer Zeit von AfD und Horst Seehofer fängt auch noch eine seriöse, liberale Zeitung an, Menschenrechte zu diskutieren, als sei man bei einem Debatten-Wettbewerb.
Man kann doch nicht Menschen ertrinken lassen, damit andere abgeschreckt werden. Ich fragte demn stellvertretender Chefredakteur Bernd Ulrich, ob man dann auch lieber Unfallopfern auf der Autobahn nicht mehr helfen soll, um andere vom Rasen abzuschrecken. Der Tweet erhielt eine ganze Reihe Favs und Retweets.
Ich erinnerte mich dann aber an meine selbstgesetze Regel: Keine Artikel kommentieren, die ich nicht gelesen habe. Ich konnte die Artikel aber auf zeit.de nicht finden. Ich weiß nicht, ob ich zu doof zum Suchen bin, oder ob die Artikel nicht von Angfang an online waren. Ich habe mich dann darüber geärgert, dass meine halbe Timeline Artikel disktiert, die sie nicht gelesen haben – denn verlinkt hatte den Artikel auch niemand.
Dann tauchten einzelne Sätze aus dem Contra-Artikel von Miriam Lau auf: Die privaten Retter seien beim Thema „Menschenrechten ist absolut kompromisslos“. Wie sollte man bei Menschenrechten denn sonst sein? Vor allem bei einer Frage von Leben und Tod? Empörend! Nachlesen konnte ich das leider nicht. Ich habe das aber dann nicht kommentiert.
Endlich eine Diskussionsgrundlage
Heute habe ich den Artikel endlich gefunden und jetzt verstehe ich die ganze Aufregung nicht mehr. Eigentlich sind das keine Pro- und Contra-Artikel – beide stellen dar, wie aus der Arbeit von Schleppern und Rettern ein System entstanden ist, das schlecht für alle ist. Die Lösung könne aber nicht darin bestehen kann, die Menschen ertrinken zu lassen.
Miriam Lau kritisiert im Kern gar nicht das Retten, sondern dass die Retter und gar nicht an einer anderen Lösung interessiert seien als die Menschen direkt aus Afrika nach Europa zu holen – ohne Rücksicht darauf, wie das die demokratischen Systeme schon jetzt ins Schwanken bringt.
Sie präszisiert später auch noch einmal, was sie mit kompromisslos bei Menschenrechten meint, wenn sie schreibt: „In ihren Augen gibt es nur Retter und Abschotter; sie kennen kein moralisches Zwischenreich. Wenn die betroffenen europäischen Gesellschaften auswählen wollen, wer zu ihnen kommt, ist folgerichtig gern von ‚Selektion’, von ‚Lagern’ und von der ‚Festung Europa’ die Rede. In diesem Denken gibt es keinen Unterschied zwischen Angela Merkel und Viktor Orbán.“
Textanalyse für Dummys
In letzter Zeit fällt mir immer häufiger auf, dass Sätze aus ihrem Kontext gerissen werden und dann jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird. Was die Autor.innen bisher in ihrem Leben vertreten haben, spielt dann keine Rolle mehr. Was sonst noch alles in einem Text steht ist egal – da ist dieser eine Satz, an dem man erkennt, wes Geistes Kind der Autor wirklich ist. So habe ich mich auf Twitter schon mit renomierten Journalisten darüber gestritten, ob Frank-Walter Steinmeier jetzt ein Rassist sei, weil ein Satz in einer Rede vielleicht so zu verstehen sei, als kämen alle Menschen ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland. Was für ein Unsinn! Das gab weder der Rest der Rede her noch die bisherige Vita des Bundespräsidenten.
Neulich hat sich meine Timeline darüber aufgeregt, dass die Überschrift eines Interviews mit Andrea Nahles „Wir können nicht alle bei uns aufnehmen“ lautete. Das sei die Sprache von AfD, NPD und CSU! Das komplette Interview kann man leider nur als Plus-Kunde der Passauer Neuen Presse lesen – wer ist das schon? Aber selbst in dem Anreißer kann man lesen, dass Andrea Nahles mehr gesagt hat: „Wer Schutz braucht, ist willkommen. Aber wir können nicht alle bei uns aufnehmen. Dazu müssen sich auch die Grünen im Bundesrat bewegen.“ Der Satz ist folglich vor allem ein Appell an die Grünen, sich auch mal irgendwie realistisch zu positionieren. Dass Andrea Nahles in ihrem politischen Wirken niemals den Anlass gegeben hat, sie mit der AfD zu verwechseln, war vielen egal. Das sei Das-Boot-ist-voll-Rhetorik. Das geht nicht.
Die Debattenkultur ist kaputt
„Große Geister diskutieren Visionen;
Normale Geister diskutieren Geschehnisse;
Kleine Geister diskutieren Menschen.“
– Elenor Roosevelt
Online Geister diskutieren Überschriften.
In beiden Diskussionen hatte ich den Eindruck, dass es für mich wirklich schwierig ist, etwas zu sagen, dass nicht als rassistisch ausgelegt wird. Ich ahnte, was es sein könnte, was Menschen als „Political Correctness“ beklagen. Ich bin ansonsten ein Freund einer Sprache, die Menschen nicht unnötig auf die Füsse tritt. Aber wenn selbst Menschen, die seit Jahrzehnten öffentlich deutlich gemacht haben, dass sie liberale Geister sind, bei einem einzigen Satz in den Verdacht des Rassismus geraten, dann ist wirklich etwas kaputt in unserer Diskussionskultur.
Wenn jede Gemeinschaftsunterkunft in der Diskussion zum „Lager“ wird, wenn jede Regulierung zur „Abschottung“ wird – wie soll man noch darüber diskusieren? Wenn die vernünfitge Politiker.innen einen Bogen um diese Themen macht, weil sie Gefahr laufen, in die nächste Empörungswelle zu geraten – wie sollen die Menschen denn nicht den Eindruck bekommen, die Politik kümmere sich nicht um diese Themen? Wenn das schon dem Bundespräsidenten, der SPD-Vorsitzenden oder der Redaktion der ZEIT passiert – wie soll denn noch ein normaler Menschen sich frei fühlen, diese Themen anzusprechen?
Das Problem ist auch das Medium Twitter, bei den alles schon aus technischen Gründen verkürzt sein muss. Die Redaktion der ZEIT hatte überhaupt keine Chance, die Diskussion wieder einzufangen. Ich finde es gerade nicht wieder, aber jemand kritisierte etwas an dem Artikel, Bernd Ulrich stellte daraufhin etwas klar – das war dann aber nur einer der Diskussionsstränge. In allen anderen wurde weiter diskutiert, als habe es die Antwort nie gegeben. Viel besser ist das auf Facebook natürlich auch nicht.
Irgendwie müssen wir eine Kultur des Umgangs miteinander online finden, die die Schwächen der Sozialen Medien, berücksichtigt und Menschen als Menschen betrachtet. Ich werde dazu weiterhin versuchen, nur Artikel zu liken, zu teilen und zu kommentieren, die auch auch wirklich gelesen habe. Vielleicht ist das ja auch ein Ansatz für Dich.
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