Schreiben Journalisten von einander ab? Und wenn ja: Wie viel? Der Philosoph Richard David Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer haben sich über die Medienlandschaft geärgert und nun ein Buch darüber geschrieben. Viele haben sich schon darüber aufgeregt. Ich habe es gelesen.
Früher war alles besser: Da konnte man in Zeitungen noch große Debatten führen. Es ging um Politik. Nicht um Politiker. Heute laufen die Medien nur dem nach, was auf Twitter passiert. Wenn jemand etwas Falsches sagt oder tut, wird er nicht widerlegt oder kritisiert, sondern diskreditiert. Die Verhaltensmuster von Social-Media übertragen sich nach und nach auf den Journalismus. Statt nüchtern zu berichten, was passiert ist, versuchen Medien die Politik zu beeinflussen.
So in etwa lassen sich die Thesen von Richard David Precht und Harald Welzer zusammenfassen. Dabei behaupten sie das nicht nur. Oft stützen sie sich auf Studien und anerkannte Expertinnen und Experten.
Bekannte Kritik
Tatsächlich sind viele Kritikpunkte gar nicht neu. In der einen oder anderen Form hat man das meiste schon in den letzten Jahren gelesen. Der hohe wirtschaftliche Druck erschwert den Redaktionen die seriöse Arbeit. Soziale Medien als wichtige Intermediäre belohnen reißerische Arten zu schreiben. So geht Schnelligkeit vor Recherche und Reichweite vor Seriosität. Unter dem öffentlichen Druck online bildet sich eine Art schmale Mainstream-Meinung heraus, die Abseits nichts gelten lassen.
Originell wollen die Autoren gar nicht sein. Sie wollen eine Diskussion anregen und als zwei medial bekannte und versierte Personen, scheint ihnen das auch zu gelingen – wenn sie auch die ersten Tage nach Erscheinen des Buches damit verbringen musste zu erklären, was alles nicht im Buch steht. Es ist eben kein Buch über eine angeblich staatlich kontrollierte Lügen- und Systempresse.
„Große Geister diskutieren über Ideen. Durchschnittliche Geister diskutieren über Geschehnisse. Kleine Geister diskutieren über Menschen.“
― Eleanor Roosevelt
Dass jetzt in der Buch-Kritik eher auf die angeblich narzisstischen Persönlichkeiten der Autoren eingegangen wird, die sich mit diesem Buch neue Aufmerksamkeit verschaffen wollten, bestätigt ihre Thesen. Natürlich haben die beiden bisher kein Problem gehabt, medial wahrgenommen zu werden. Natürlich entspricht ihre Kritik auch einem Zeitgeist und verspricht schon deswegen ein Bestseller zu werden.
Vertrauen schwindet
Aber genau das kann doch kein Schwachpunkt sein: Statistiken belegen, dass Medien und Staat an Vertrauen in der Bevölkerung verlieren. Es gibt viele Erklärungsansätze dafür in der Wissenschaft. Richard David Precht und Harald Welzer haben sie zusammengestellt und nutzen ihre eigene Prominenz um eine öffentliche Debatte zu starten. Wenn man diesen Ball ernsthaft aufnimmt, darüber diskutiert und dann Schlüsse für sich zieht, können nur alle gewinnen.
Ja, das Buch hat Schwächen. Es ist in kürzester Zeit zusammengeschrieben worden. Aber es ist ein Essay. Ein Versuch. Ein Debattenbeitrag. Da sollte man sich nicht allzu sehr an den Details abarbeiten. Mich hat beispielsweise genervt, wenn die beiden Autoren behaupten zu wissen, wie eine typische Redaktionskonferenz abläuft. Immer wieder werden Mechanismen nur skizziert und nicht genau genug belegt. Mir fehlen da konkrete Beispiele. Dann fleddern die Thesen aus und die Fransen streifen die Polemik. Aber vielleicht ist das auch die Würze, die ein Bestseller braucht.
Widersprüche
Es gibt einige argumentative Widersprüche: Warum können Medien gleichzeitig zu regierungstreu sein und die Regierung zu bestimmten Handlungen drängen wollen? Warum schreiben die Medien den Leuten nach dem Munde, um mehr und mehr Klicks zu generieren und trotzdem finden sich die Menschen zu wenig in der Berichterstattung wieder?
Aber vielleicht passiert das auch alles gleichzeitig. Denn das Spektrum der Medien ist breit und auch breiter als das, über was die Autoren diskutieren. Ihnen geht es nur um die großen Debatten. Um den Ukraine Krieg beispielsweise.
Hier gibt es starke mediale Stimmen, die mehr Waffen für die Ukraine fordern und der Bundesregierung zu zögerliches Handeln vorwerfen. Die Medien wollen Olaf Scholz drängen, sind die beiden Autoren überzeugt. Gleichzeitig werden Personen diskreditiert, die befürchten, dass ein zu energisches Engagement Putin zum Einsatz von Atomwaffen drängen könnte. Ihnen wird unter anderem „Unterwerfungspazifismus“ vorgeworfen.
„Ein wesentlicher Grund dieses Vertrauensverlustes liegt, wie uns am Ende dieses Buches scheint, in einem Paradox: Je stärker die Leitmedien sich der Wirkmechanismen von Direktmedien bedienen, um ihrem Publikum möglichst nahe zu sein, umso mehr schwindet dessen Vertrauen in sie,“ bilanzieren die Autoren.
Blinder Fleck: Die Leserinnen und Leser
Aber vielleicht ist es auch teilweise ein Empfängerproblem. In der analogen Vergangenheit hat niemand alle Zeitungen gelesen. Heute kann man jeden Artikel über das Internet finden und dank aufmerksamer Leserinnen und Leser bekommen kritisierte Menschen auch jeden Artikel mit.
Ich habe selbst einmal mit einer Person gesprochen, die zu der Zeit gerade bundesweit negative Schlagzeilen gemacht hat. Die Person hat damals eine Kampagne gegen sich vermutet. Dabei haben einfach nur alle berichtet. Das war nicht einmal ein großes Thema. Es war nur gerade so groß, dass jede überregionale Zeitung ein- oder zweimal darüber berichtet hat. Aber wenn man plötzlich „in allen Zeitungen“ steht, dann ist das vermutlich ein wirklich großer Druck.
Auch 100 negative Kommentare unter einem Facebook-Post wirken wie ein krasser Shitstorm. Am Ende sind das aber nur höchsten 100 Personen, die sich morgen für die nächste Sau interessieren. Trotzdem: Schon ein bescheuerter Kommentar kann einem den Tag verhageln. Das macht etwas mit Menschen, die Medien schaffen oder in den Medien vorkommen.
Vielleicht ist ein Teil des Problems der Medien auch ein Problem mit der Wahrnehmung der Medien. Die Sozialen Medien spülen uns immer die Aufreger in die Timeline. Die sachlichen Hintergrundberichte müssen wir suchen. Die nüchterne Berichterstattung über Vorgänge vor der Haustür übersehen wir.
Man kann sich an „Die Vierte Gewalt“ abarbeiten oder man kann die Vorlage annehmen und etwas Konstruktives aus der Debatte machen. Die Medien haben ein Problem. Wenn die Medien ein Problem haben, hat die Demokratie ein Problem. Dann haben wir alle ein Problem. Die „Die Vierte Gewalt“ ist am 28. September 2022 bei S. Fischer Verlage erschienen, hat in der gebundenen Ausgabe 287 Seiten und kostet 22€. Das eBook kostet 19,99€.
Links
- Deutschlandfunk: Interview mit Harald Welzer, Sozialpsychologe
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