„Wir brauchen die Flüchtlinge“ nennt sich Marc Beises Büchlein – Im Untertitel: „Streitschrift“. Anders geht das bei diesem Thema wohl zurzeit nicht. Dabei ist das, was Marc Beise da schildert keine Utopie. Es sind einige sinnvolle Schritte, die dazu führen könnten, dass wir die Flüchtlinge vernünftig integrieren.
Seit die Flüchtlinge wieder in der Türkei und in Griechenland irgendwie davon abgehalten werden, weiter nach Norden zu ziehen, seit sie wieder auf dem Mittelmeer sterben, hört man nur noch wenig zu diesem Thema. Aus den Augen aus dem Sinn – und offenbar sind die Flüchtlinge, die es im letzten Jahr nach Deutschland geschafft haben doch gar nicht so viele, dass es unmittelbar zum Problem geworden ist. Zumindest die Medienaufmerksamkeit ist inzwischen weitergezogen. Insofern ist dieses Buch, im Dezember 2016 erschienen, fast nicht mehr aktuell. Im Klappentext heißt es:
„Noch nie haben sich so viele Flüchtlinge auf den Weg einem neuen Deutschland nach Europa gemacht wie im Jahr 2015. Sie sind nicht wirklich willkommen – erst recht nicht nach den Terroranschlägen in Paris. Aber die Angst vor den Fremden verstellt den Blick auf die Chancen der Zuwanderung. Die Flüchtlinge sind eine Herausforderung, aber auch eine große Chance. Sie können Deutschland bereichern und erneuern, wenn sie schnell und mutig integriert werden. Diese Streitschrift beschreibt, was zu tun ist.“
Marc Beise ist Wirtschaftsjournalist bei der Süddeutschen Zeitung und so ist sein Fokus auch ein wirtschaftlicher: Die Flüchtlinge könnten neuen Schwung in die alte Wirtschaft der Bundesrepublik bringen. Allein die zügige Integration, die rechtliche Anerkennung oder der Deutschunterricht für hunderttausende Menschen zwingen uns dazu, Regeln zu hinterfragen und dort auf die Tube zu drücken, wo wir unnötig bürokratisch sind.
Wohltuend ist es, derartige Gedanken mal am Stück zu lesen. Wohltuend ist es auch, noch einmal nachzulesen, wie es eigentlich dazu kam, dass im letzten September Bundeskanzlerin Angela Merkel und der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann die Weiterreise der Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich und Deutschland ermöglichten. An der ungarischen Grenze, mitten in Europa, zeichnete sich nämlich damals eine humanitäre Katastrophe ab. Die Entscheidung war menschlich gesehen die einzig richtige.
Dagegen sind die Fragen, denen wir heute gegenüber stehen, eher praktischer Natur: Wir brauchen zu allererst Deutschunterricht für die Neuankömmlinge. Wir brauchen dazu aber nicht einfach nur mehr Lehrerinnen und Lehrer – wir können auch endlich einmal ausprobieren, wie das mit dem digitalen Lernen funktioniert. Die Fachhochschule Lübeck zum Beispiel hat ein MOOC (Massive Open Online Course) gestartet, mit dem Arabisch sprechende Menschen anfangen können, Deutsch zu lernen. 1200 Anmeldungen hatte das Angebot vom Start weg. Dazu brauchen sie Internetzugänge. Das Land rüstet die Unterkünfte mit Freifunk aus – Störerhaftung hin oder her.
Es kommt Bewegung ins Land – so wie das auch nach 1945 war, als Katholiken und Protestanten, als Ostdeutsche, Süddeutsche, Norddeutsche und Westdeutsche durcheinander gemischt wurden. Die Konflikte damals kann sich heute ja niemand mehr vorstellen – Das ist ein Ergebnis dieser Durchmischung. Bis Ende der 1960er Jahre hatte die katholische Kirche die Mischehe mit Protestanten noch verboten. Da gab es bereits eine Million dieser Verbindungen und die Kirche musste ihre Position modernisieren. Daran erinnert sich heute niemand mehr. Andreas Kossert schrieb im Februar 2016 in der ZEIT:
„Auch die religiöse Landkarte Deutschlands veränderte sich durch die Vertriebenen, wie seit den Tagen des Dreißigjährigen Krieges nicht mehr. Wenn Protestanten aus dem Osten auf Katholiken aus dem Westen trafen, konnte es selbst in den fünfziger Jahren noch zu tumultartigen Szenen kommen. Die bloße Anwesenheit der Vertriebenen stellte gewachsene Hierarchien und Traditionen infrage. Doch mit der Zeit trug das Zusammenleben zu einem neuen, entspannteren Miteinander der Konfessionen bei. Die Flüchtlinge wurden zu Motoren einer ungeahnten Modernisierung, sie brachen verkrustete Strukturen auf, und sie trugen maßgeblich zum Wiederaufbau Deutschlands bei. Sie waren mobil, konnten überall neu anfangen und gingen dorthin, wo Arbeit war.“
Natürlich funktioniert Integration nicht von allein. Natürlich ist das eine große Herausforderung auf allen Ebenen. Natürlich wird es auch Probleme geben – Dinge, die nicht funktionieren, die zu langsam gehen. Die Voraussetzungen sind aber so gut wie noch nie in der Geschichte Deutschlands. Wer einmal im Zusammenhang lesen will, wie die Integration der Flüchtlinge in Deutschland gelingen kann und was wir dann als Gesellschaft zu gewinnen haben, der kann mit den 88 Seiten von Marc Beises Streitschrift „Wir brauchen die Flüchtlinge“ eine längere Bahnfahrt intelligent überbrücken.
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