„Innovation!“ Das Wort strahlt so viel Zauber aus. Etwas Neues – es wird unser Leben zum Besseren verändern! Die Welt ist fest im Griff der Innovations-Ideologie. Doch darüber vernachlässigen wir die wichtigen Tätigkeiten, verschwenden viele Ressourcen und blicken auf die herab, die den Laden am Laufen halten, schreiben die Technologie-Historiker Lee Vinsel und Andrew L. Russell in „The Innovation Delusion“.
Wer Innovation betreibt, bekommt die große Bühne. Wer sich darum kümmert, dass die Bühne aufgebaut und gewartet wird, bekommt keine Aufmerksamkeit. Politiker schneiden lieber Schleifen zur Eröffnung neuer Einrichtungen durch – dafür beschneiden sie das Budget für die Instandhaltung anderer Einrichtungen.
Wir wollen als Gesellschaft immer alles mögliche gleichzeitig haben – immer mehr und mehr. Immer Neues. Das ist der Kern der Wachstums-Ideologie. Doch es gibt nur begrenzt Menschen und Rohstoffe. Deswegen geben wir nicht das Geld für die Instandhaltung aus, das wir ausgeben müssten. Wir bezahlen die Menschen in der Instandhaltung schlechter und beschäftigen sie prekärer, damit wir uns die neuen Sachen leisten können.
WLAN läuft. Die Bahn steht.
Bahnstrecken und Autobahnbrücken verkommen. Dafür gibt es WLAN in den Zügen und man kann sich per App selbst die Fahrkarte abstempeln. Wir fragen uns, warum man immer noch nicht alle Busse und Bahnen mit der gleichen App buchen kann – die vernachlässigte Instandhaltung bemerken wir erst, wenn der Zug ausfällt.
Ohne Fördergelder geht heutzutage fast nichts mehr. Die gibt es aber viel einfacher für neue Projekte als für die Instandhaltung bestehender Infrastruktur. Lee Vinsel und Andrew L. Russell berichten von Städten in den USA, die sich die Instandhaltung ihrer vorhandenen Infrastruktur schon lange nicht mehr leisten können. Sie haben ihre Infrastruktur stärker wachsen lassen, als ihr Steueraufkommen.
Jedes Jahr ein neues Handy-Modell
Obwohl die Schulen verfallen, wollen diese Städte trotzdem noch das neue Bürgerhaus bauen. Die Schulen wurden großzügig und per Förderung mit Laptops und Tablets ausgestattet und nun müssen sich die Schulen um deren Wartung und Unterhalt kümmern. Geräte, die man immer weniger reparieren kann.
Denn auch die meisten Menschen wollen immer mehr Dinge haben. Die werden immer billiger, damit sie sich mehr Menschen leisten können und dabei immer mehr zu Wegwerf-Produkten. Es lohnt sich nicht, sie zu reparieren und man kann sie gar nicht mehr reparieren, weil sie nicht mehr dafür gemacht sind. Die raren Materialien in ihnen können nicht einmal recycelt werden.
„Geplante Obsoleszenz“ kennen wir bereits: Die Hersteller bauen ihre Produkte so, dass sie sicher nach einer bestimmten Zeit kaputt gehen. Heute sehen wir aber gerade bei digitalen Produkten „erzwungene Obsoleszenz“, wenn es einfach keine Software-Updates für noch funktionierende Hardware gibt.
Nicht „niedrig qualifiziert“ sondern schlecht bezahlt
Menschen, die sich um Instandhaltung und Reparaturen kümmern werden oft als „niedrig qualifiziert“ bezeichnet. Dabei haben sie natürlich Qualifikationen – inklusive der körperlichen Kraft, diese Arbeit zu tätigen. Dann ginge es, so die Autoren, nur darum, diese Menschen abzuwerten.
„Niedrig qualifiziert“ bedeutet darüber hinaus, dass man diesen Menschen einfach noch mehr beibringen müsste, damit sie qualifiziert sind, um einen besseren Job zu bekommen. Aber irgendjemand muss diese Arbeit machen. Da Ziel muss sein, diese Tätigkeiten besser anzuerkennen und sie besser zu bezahlen.
Auch den sozialer Zusammenhalt müssen wir pflegen
Der Innovations-Wahn zerstöre die soziale Infrastruktur, höhle die öffentlichen und privaten Institutionen aus und schade unserer Gesundheit, befinden die Autoren. Ich glaube, es war in „Rückkehr nach Reims“, wo Didier Eribon berichtet wird, dass es die kaputte und nicht mehr reparierte Parkbank war, die die Leute hat fühlen lassen, dass sie überflüssig sind. Wahrnehmungen wie diese hat sie dann in die Arme der Rechtsradikalen getrieben, die vorgeben die Ordnung wiederherstellen zu wollen.
Wir sollten uns fragen: Was ist es wert, lange erhalten zu werden? Wie sollten die Dinge beschaffen sein, damit wir sie erhalten können? Wie viel können wir besitzen und uns um den Erhalt kümmern? Eine gute, öffentliche Infrastruktur benötigt eine gemeinsamen, gesellschaftlichen Geist, der die Dinge wertschätzt und erhält.
„Das wichtigste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Es erklärt so viel darüber, was mit unserer Technologie, unserer Wirtschaft und der Welt falsch läuft, und gibt ein einfaches Rezept, wie man es beheben kann: Konzentrieren Sie sich darauf zu verstehen, was nötig ist, damit Ihre Produkte und Dienstleistungen Bestand haben.“
Tim O’Reilly
„The Innovation Delusion“ ist 2020 bei Penguin Random House erschienen, hat 272 Seiten und kostet als gebundene Ausgabe 29 Euro – als eBook 8,49 Euro.
Video
Erst wenn Du das Video startest, werden Daten an YouTube übermittelt. Siehe Datenschutzerklärung
Schreibe einen Kommentar