„Die Zukunft ist schon da, nur noch nicht gleichmäßig verteilt“ – das sagte der Science-Fiction Autor William Gibson. Hans Rosling könnte ergänzen: „…und zu wenige wissen davon“. Der schwedische Arzt plädiert in seinem letzten Buch für einen unverstellten Blick auf die Welt.
Vieles von dem, was wir meinen über die Welt zu wissen, ist vollkommen veraltet. Die Kluft zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern gibt es nicht mehr. Die gab es noch in den 1970er Jahren. Seither haben alle Länder an sich gearbeitet. Sie sind so weit aufgestiegen, dass der Übergang zwischen den Ländern fließend ist.
Hans Rosling hat bei seinen Vorträgen immer wieder das Publikum zu grundlegenden Fragen der Welt befragt. Schimpansen hatten meist bessere Trefferquoten als die ganzen schlauen Leute, die Hans Rosling sehen wollten. Das Problem sei also nicht Unwissenheit, sondern vorgefasste Meinungen.
Es gibt keine Kluft mehr zwischen dem globalen Norden und dem Süden. Stattdessen teilt die UNO auf Anregung von Hans Rosling die Welt inzwischen in 4 Stufen ein:
- Die Stufe 1 ist extreme Armut – dort verdienen die Menschen gerade mal einen Dollar am Tag. Diese Menschen sind die meiste Zeit des Tages mit der ganzen Familie damit beschäftigt zu überleben.
- Schon die Verdoppelung des Einkommens auf 2 Dollar verändert das Leben. Hier beginnt die Stufe 2.
- Ab 8 Dollar am Tag befindet man sich in Stufe 3.
- Ab 32 Dollar in Stufe 4. Dort leben wir heute.
Aus unserer Perspektive sind alle in Stufe 1, 2 und 3 arm. Aber wer in auf diesen Stufen lebt, sieht deutlich, wie viel besser sein Leben wäre, wenn er aufsteigt. Diese Menschen sehen die Unterschiede. Und die meisten Menschen leben in Stufe 2 und 3.
Alle haben klein angefangen
Historisch gesehen haben alle Länder die meiste Zeit der menschlichen Geschichte auf Stufe 1 verbracht. Noch im Jahr 1800 haben fast alle Menschen auf Stufe 1 gelebt. Dann begann der Aufstieg. Nach und nach haben sie sich hochgearbeitet. In einigen Ländern ging das schneller als in anderen.
Auch heute noch steigen alle Ländern auf. Einige schneller als andere. Die reichen Länder sind langsamer geworden, zum Beispiel im Vergleich zu China. Viele Länder auf der Welt sind so weit wie Deutschland vielleicht in den 1970ern war. Für viele Deutsche was das damals kein schlechtes Leben. Es war die Zeit des Pillenknicks. Und so bekommen Frauen auf der ganzen Welt inzwischen nicht mehr als zwei Kinder.
Hans Rosling betont, dass das nicht ausschließlich das Ergebnis besonders klugen Regierungshandelns ist. Es hängt auch nicht mit Demokratie zusammen. Es sind oft die einzelnen Menschen, die für sich und gemeinsam mit anderen an Verbesserungen arbeiten.
Vieles was wir für regionale Traditionen, Religion oder Kultur halten, hat fast ausschließlich wirtschaftliche Gründe. Der Papst hat zum Beispiel statistisch gesehen keinerlei Einfluss auf die Verwendung von Verhütungsmitteln, obwohl sich die katholische Kirche immer wieder dagegen ausgesprochen hat.
Es gibt sehr arme christliche Länder und sehr reiche Länder anderer Religionen. Die extrem Armen auf der Welt heizen nicht aus Tradition mit Holz. Es liegt schlicht kostenlos in der Gegend herum. Wenn Induktionsherde und Stromanschlüsse herumlägen, würden sie die vorziehen.
Mit seinem Projekt Dollar Street zeigt Hans Rosling, dass sich die Lebenswelt der Menschen auf der gleichen ökonomischen Stufe gar nicht so groß unterscheidet. Reiche Menschen gibt es überall und die Schlafzimmer auf Stufe 4 sehen weltweit ähnlich aus. So ist das auch auf Stufe 3, 2 und 1. Außerdem kann man sehen, dass es nicht die Armen und die Reichen gibt, sondern wie sich das Spektrum dazwischen auffächert.
Die Dinge, die wir für kulturelle Eigenheiten halten, sind in der Regel sinnvolle Verhaltensweisen, die wir auch annehmen würden. Hans Rosling beschreibt zum Beispiel die Eigenheit in viele Ländern, dass Häuser aussehen, als seien sie nicht fertig gebaut. In Deutschland wäre das ein Zeichen von schlechter Planung. Dort aber kann man ein Haus nicht ausfinanzieren und dann bauen. Dort wird an einen Haus immer dann weiter gebaut, wenn Geld da ist. Steine sind dann eine gute Geldanlage, weil sie verbaut nicht an Wert verlieren und man dann drin wohnen kann.
„Factfulness“ ist der unbedingte Blick auf die Fakten
Spannend finde ich, das diese absolute Fixiertheit auf Statistik und Fakten gleichzeitig einen sehr individuellen Blick auf die Menschen eröffnet. Alle Menschen auf der Welt wollen das Gleiche. Sie wollen für sich und ihre Familie, Freunde und Bekannte ein Vorankommen – dass es besser wird. Weil jeder Experte seines Lebens ist, und für sich daran arbeitet, kommt auch die Gesamtheit der Menschen voran.
Hans Rosling erzählt eine Reihe Geschichten aus seinem Leben. In einer davon reist er als Arzt in eine Region im damaligen Zaire. Er sollte herauszufinden, warum dort eine bestimmte Krankheit auftritt. Die Dorfbewohner wehren sich gegen die Blutabnahme. Sie werden erst überzeugt, als eine Frau aus dem Dorf sich an die Seite der Forscher stellt. Sie erklärt was die Fremden machen und stellt sich selbst als erste für die Blutprobe zur Verfügung.
Ich dachte an der Stelle, was wohl in einem durchschnittlichen deutschen Dorf passiere, wenn dort Wissenschaftler einfliegen und Experimente an den Leuten anstellen. Wenn die Bewohner von Kleckerstedt Macheten hätten, würden sie damit bei den Forschern vor der Tür stehen und eine Erklärung verlangen!
Hans Rosling bezeichnete sich nicht als Optimist, sondern als Possibilist. Verbesserung ist immer möglich und liegt in der menschlichen Natur. Er sagt nicht, dass alles super ist, sondern dass man sehen soll, wie es ist. Denn nur wenn man sieht, wie die Welt wirklich ist, kann man sie wirkungsvoll verändern. Das gilt zum Beispiel auch für den Klimawandel. Den hält er für eines der fünf größten Risiken der Menschheit – so wie übrigens auch eine globale Pandemie.
Mit dem Wissen aus diesem Buch kann man erkennen, mit welcher Strategie sich der Klimawandel aufhalten lässt. Er wird nicht dadurch gestoppt, dass man die Entwicklung der Menschen auf den unteren Stufen stoppt. Nach dem Motto: „Die können nicht alle so leben wie wir!“ Der Klimawandel kann nur gestoppt werden, wenn wir verändern, wie Menschen in Stufe 4 leben – wie wir leben. Denn da wollen alle hin.
Hans Rosling ist 2017 gestorben. „Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“, ist sein inspirierendes Vermächtnis an die Welt. Die 312 Seiten plus Anhang gibt es für 16 Euro – damit kannst Du Deine örtliche Buchhandlung unterstützen. Oder schau Dir zumindest eines der vielen brillianten Videos bei YouTube an.
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- Gapminder: Almost nobody knows the basic global facts!
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