„Die Nachrichten-Branche ist der Blinddarm der Gesellschaft – ständig entzündet und völlig überflüssig,“ findet der Schweizer Philosoph Rolf Dobelli. Eine steile These, die er in seinem aktuellen Buch „Die Kunst des digitalen Lebens“ vertritt.
Nachrichten – das sind die kleinen Schnipsel von Informationen über die Welt, die in einem ständigen Storm auf uns einprasseln und uns die Illusion geben, wir wüssten irgendwas.
Rolf Dobelli vergleicht Nachrichten mit diesen Kinderrätseln, bei denen man durchnummerierte Punkte miteinander verbinden soll, damit die Linie ein Bild ergibt – nur ergeben die Nachrichten-Punkte kein Bild. Alles, was Nachrichten uns vermitteln bleibt oberflächlich. Extrem wenige Nachrichten haben eine Auswirkung auf mein Leben und meistens macht es mir einen nur schlechte Laune. Rolf Dobelli ist für sich selbst den Weg vom News-Junkie zum News-Abstinenzler gegangen.
Wenn ich mir überlege, mit welchen Nachrichten sich meine Filterblase in den letzten Wochen am meisten beschäftigt hat, waren das:
- Greta Thunberg muss bei einer Bahnfahrt auf dem Fußboden sitzen.
- Eine WDR-Satire provoziert Omas und Nazis.
- Die sächsische Polizei bläst einen Einsatz an Silvester künstlich auf.
Mal ernsthaft: Wem bringt das was?
„Auf Twitter sind ohnehin nur Politiker, Journalisten und Psychopathen unterwegs. Eigentlich müsste ich jetzt meinen Twitter-Account löschen. Das würde mein Leben leichter machen,“ hat die Staatsministerin für Digitales, Dorothee Bär, einmal gesagt. Auch das war damals heiß diskutiert. In seiner aktuellen Kolumne hat Rezo ihre Feststellung noch einmal bestätigt:
„Nur zwei Prozent der Deutschen nutzen täglich Twitter. Frauen sogar so wenig, dass der Anteil in der oben verlinkten Studie auf null Prozent abgerundet wird. Medienforscher warnen deshalb bezüglich Twitter-Deutschland vor „verzerrten Relevanzrahmen und Stimmungsbildern, welche mit denen der Gesamtbevölkerung nur wenig zu tun haben“. Das muss nicht bedeuten, dass bei Twitter keine relevante Kritik zu aktuellen Themen geäußert wird. Aber für die Diagnose, es gebe allgemein „Aufregung“ über irgendwas, auf die man irgendwie reagieren müsse, taugt der Kanal, von dem aus auch die Umweltsau-Diskussion in die Welt kam, bei Weitem nicht.“
Rezo stört: Die Umweltsau im Twitter-Dorf
Social Media und News Media gehen Hand in Hand: Ein Tweet kann eine Nachricht werden und eine Nachricht dann wieder ein Tweet. Was auf Twitter geschrieben wird, ist passiert und muss nicht aufwendig recherchiert werden.
Nachrichten sind die interessanteste Version der Wahrheit, die Algorithmen der Sozialen Netzwerke fördern die kontroversesten Nachrichten. Dann berichten die Nachrichten wieder über die Kontroverse im Netz usw.
Rolf Dobelli empfiehlt den Ausstieg aus News. Ein Leben ohne News ist möglich. Wer etwas über die Welt erfahren will, sollte zusehen, dass er mit Büchern und längeren Magazinartikeln den eigenen Horizont erweitert. Man bildet sich damit zum Spezialisten weiter und kann einen viel besseren Beitrag zur Gesellschaft leisten, als Universaldilettanten mit News-Wissen.
Journalismus behält natürlich weiterhin seine Berechtigung – in der Form von investigativem Journalismus und Erklär-Journalismus. Dadurch erfahre man wirklich etwas über die komplexen Zusammenhänge in der Welt und dadurch würde der Journalismus wirklich seinem Anspruch als Korrektiv der Mächtigen gerecht.
Der Vulkanausbruch in China betrifft mich in der Regel nicht. Ob Bekannte von mir dabei ums Leben gekommen sind, erfahre ich nicht aus den Nachrichten und den Betroffenen ist auch nicht geholfen, wenn ich über ihr Schicksal lese. Rolf Dobelli empfiehlt lieber etablierten Hilfsorganisationen zu spenden. Die wüssten selbst am besten, wo und wie man Menschen wirklich helfen könnte.
Die Zeitungen und Websites sind jeden Tag wieder voll mit Nachrichten aus aller Welt. Kaum etwas hat eine Relevanz für mein Leben. Kaum etwas erklärt mir etwas, das sich vorher noch nicht wusste. Kaum etwas enthält einen interessanten Gedanken, den ich vorher noch nicht hatte.
Ich fand immer schon, dass Tageszeitungen zwar einerseits die einzigen sind, die sich mit den Verhältnissen in meiner Umgebung beschäftigen. Das ist wichtig. Sie tun es aber nicht so, dass man einfach einsteigen könnte, um wirklich etwas zu versehen. Sie sind Fachblätter für Kommunalpolitikerinnen und ‑politiker. Man muss schon alles wissen, damit man mit den Nachrichten-Brocken überhaupt etwas anfangen kann. Für alle anderen Leserinnen und Leser sind sie Unterhaltung.
Ich fand damals die Idee des Landesblog cool. Wir haben uns da tatsächlich die Mühe gemacht, ehrenamtlich die Lücke zu schließen, die die Nachrichten-zentrierte Berichterstattung in der Landespresse hinterlässt. Abseits des News-Geschäfts haben wir versucht unserer Leserschaft ein echtes Verständnis für die Landespolitik zu geben, damit sie sich vielleicht sogar selbst informieren können.
Bei manchen der Nachrichten-Journalistinnen hat man den Eindruck, dass die keine Ahnung von Politik haben und sich auch nicht dafür interessieren. Sie müssen halt Politiknachrichten schreiben, damit sie irgendwann Autos testen können oder zu Fußballspielen dürfen.
Ich finde die Idee von Correctiv.org super. Die kümmern sich tatsächlich um Recherchen und um investigativen Journalismus. Die müssen keine Zeitung vollschreiben und keine Social-Media-gerechten Infohappen schreiben, die unsere Aufmerksamkeit für Geldgeber aus der Überwachungsbranche anzieht.
Der Deutsche Titel „Die Kunst des digitalen Lebens“ mag zu den vorigen Veröffentlichungen von Rolf Dobelli passen. Er führt aber auf eine falsche Fährte – was eine ganze Reihe enttäuschter Rezensionen auf Amazon belegen. Der englische Titel „Stop Reading the News“ passt wesentlich besser.
Rolf Dobelli gibt eine ganze Menge Tipps zu sinnvollen Alternativen zum News-Konsum. Wer News ignoriert, hat plötzlich viel Zeit. Die 256 Seiten sind flott gelesen und geben jede Menge Anregungen zum Nachdenken. Mein erster Buchtipp 2020.
Links
- Piper-Verlag: Rolf Dobelli – Die Kunst des digitalen Lebens
- Rezo stört: Die Umweltsau im Twitter-Dorf
- The Guardian: News is bad for you – and giving up reading it will make you happier
- BR: Gegen die Hysterie: Wie sinnvoll ist eine „News-Diät“?
- Deutschlandfunk: Appell zum radikalen Verzicht auf Nachrichten
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