Bereits auf der re:publica14 hat die österreichische Journalistin Ingrid Brodnig ihre Gedanken zum Umgang mit Anonymität im Internet zur Diskussion gestellt. Ich fand das damals sehr interessant und ich habe mich gefreut, als Ingrid Brodnigs Buch „Der unsichtbare Mensch“ kürzlich erschien. Auch darin geht sie der Frage nach, „wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert.“
„Das Mitmach-Netz“ – so hat man vor ein paar Jahren das „Web 2.0“ genannt. Wer unter einer Webseite kein Kommentarfeld anbot, hatte „das Internet nicht verstanden“. Das Internet hätte ein wunderschöner Ort für Debatten unter Bürgerinnen und Bürgern werden können. Ich hatte damals diese Hoffnung. Die Piratenpartei ist unter anderem auf Basis dieser Annahme gegründet worden. Wir Internetbegeisterten wollten die politischen Diskussionen aus dem Hinterzimmer auf die Startseiten holen und sie so für alle zugänglich machen. Anonymität ist dabei einer der Gründungsmythen des Netzes: Hier sollte nichts anderes mehr gelten als das pure Argument.
Doch dann kamen mehr und mehr dieser Menschen in unser Internet und fanden heraus, was man mit diesen Kommentarfeldern auch noch anfangen kann. Und zugegeben: Man hätte es ahnen können. Godwins Gesetz ist von 1990: „Mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion nähert sich die Wahrscheinlichkeit für einen Vergleich mit den Nazis oder Hitler dem Wert Eins an.“ Und meine ersten flammenden Streits („Flame Wars“) fanden Anfang der 1990er in Newsgroups statt. Da war das WWW noch ein merkwürdig bunter Teil des Internets, den man nur über spezielle Netzanbieter bekam.
Der Gyges Effekt
Ingrid Brodnig hat sich in „Der unsichtbare Mensch“ mit der Geschichte der Anonymität im Allgemeinen und der der Anonymität im Internet im Speziellen beschäftigt. Und sie tut einige interessante Vorläufer der heutigen Foren-Trolle auf: So zum Beispiel Gyges. Der einfache Hirte konnte laut Platon mit Hilfe eines Ringes unsichtbar werden. Und dann verführte er die Königin und tötete den König. Und an dieser Stelle macht Ingrid Brodnig eine wichtige Unterscheidung:
„Nicht die Anonymität ist das Kernproblem, der Aggressivität im Netz, sonder das Gefühl der Unsichtbarkeit. Weil die Kommunikation oft so konsequenzenlos und der Gesprächspartner fern scheint, werden viele Aussagen unachtsam hingeschleudert, und etliche User neigen zu einer harschen, enthemmten Sprache. Es ist fast so, als hätten sie das Gefühl, der Ring des Gyges stecke an ihrem Finger.“
Der Nasty Effect
Doch es ist nicht nur die gefühlte Unsichtbarkeit, die Menschen zu einem härteren Ton bringt. Es ist auch der Ton anderer Diskussionsteilnehmer. Wo schon „hart diskutiert“ wird, da werden selbst die Fakten in den Artikeln härter bewertet, wenn neue Kommentatoren dazu kommen. Eine Studie, die Ingrid Brodnig zitiert, hat sich mit diesem „Nasty Effect“ befasst.
Bereits außerhalb des Internets sind viele Menschen keine guten Rhetoriker. Da wird platt und kenntnisarm argumentiert und am Thema vorbei geredet. Und wenn es gar nicht mehr weitergeht, dann wird man eben laut. Aber das ist auch okay. Das bedeutet nicht, dass jemand keine Ahnung hat oder keine Meinung haben sollte. Selbst bei denen, die es eigentlich können sollten – bei unseren Spitzenpolitikern – hilft eine strikte Sitzungsleitung im Parlament und eine strenge Moderatorin im Fernsehen, wenn ansonsten alle durcheinander reden würden.
Ich glaube, hier liegt auch die Chance für das Mitmachen-Netz der Zukunft: Wer Kommentare anbietet muss sich um eine Moderation kümmern und die Diskussionen organisieren und sonst einfach keine Kommentarfunktion anbieten. Wer mitreden will, muss sich an die Regeln halten. Und wer dann immer noch einfach irgendetwas Böses loswerden will, kann den Link bei Facebook teilen und dort seine Freundeskreis damit behelligen. Ingrid Brodnig macht zur Verbesserung des Diskussionsklimas noch einige konkretere, zum Teil technisches Vorschläge, die einen breiteren Test verdient hätten.
Wer sich für Fragen der Diskussionskultur im Internet interessiert, sollte „Der unsichtbare Mensch“ lesen. Dieses Feld ist, soweit ich weiß bisher nicht allzu gut beackert und Ingrid Brodnig sammelt eine Reihe interessanter Gedanken und Gedankenansätze zusammen. Wie allerdings bei allen Internet-Büchern, sollte man es bald lesen, bevor es von der nächsten Entwicklung überholt wird.
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Ingrid Brodnig: Der unsichtbare Mensch – Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert
- Buch
ISBN: 978–3‑7076–0483‑2
Preis: Euro 18,90 - e‑Book
ISBN: 978–3‑7076–0484‑9
Preis: Euro 14,99
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