Demokratie braucht eine funktionierende politische Öffentlichkeit. Der Philosoph Jürgen Habermas erneuert diese These aus seiner Habilitationsschrift von 1962 in „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“: Das Internet verändert die Öffentlichkeit und wir müssen neu lernen, damit umzugehen.
Die deliberative Demokratie ist eine, in der sich die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger auf Augenhöhe in einer gemeinsamen Öffentlichkeit begegnen, Fakten und Argumente austauschen und dann auf dieser Basis (Wahl-)Entscheidungen treffen.
Das Mediensystem hat dabei eine wichtige Funktion für die politische Öffentlichkeit, um konkurrierende öffentliche Meinungen hervorzubringen. Gerade wenn sich die Lebensstile auseinander entwickeln habe die öffentlichen Meinungs- und Willensbildung eine noch größere Bedeutung. Die Willensbildung dürfe auch kontrovers sein. „Wer argumentiert, widerspricht.“
Vom 19. ins 20. Jahrhundert
In Jürgen Habermas Habilitation „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ging es 1962 um den Wandel von der bürgerlichen Öffentlichkeit in Salons und Kaffeehäusern des 19. Jahrhunderts zu einer nicht mehr elitären medialen Öffentlichkeit. Die Massenmedien erreichten viele Menschen, arbeiteten aber unter kapitalistischem Konkurrenzdruck und gehörten einigen wenigen, reichen Männern.
Vom 20. ins 21. Jahrhundert
Heute sehen wir einen neuen Strukturwandel von den Massenmedien zu den digitalen Medien. Jürgen Habermas stellt diese Zäsur auf eine Stufe mit der Einführung des Buchdrucks – mit all den Umwälzungen, die der Buchdruck damals brachte.
„Der Aufstieg der neuen Medien vollzieht sich im Schatten einer kommerziellen Verwertung der einstweilen kaum regulierten Netzkommunikation. Diese droht einerseits den traditionellen Zeitungsverlagen und den Journalisten als der zuständigen Berufsgruppe die wirtschaftliche Basis zu entziehen; andererseits scheint sich bei exklusiven Nutzern sozialer Medien eine Weise der halböffentlichen, fragmentierten und in sich kreisenden Kommunikation durchzusetzen, die deren Wahrnehmung von politischer Öffentlichkeit als solcher deformiert. Wenn diese Vermutung zutrifft, wird bei einem wachsenden Teil der Staatsbürger eine wichtige subjektive Voraussetzung für den mehr oder weniger deliberativen Modus der Meinungs- und Willensbildung gefährdet.“
Die immer noch neuen Medien böten „große emanzipatorische Versprechen“: Aus Leserinnen und Lesern der Massenmedien könnten endlich gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger werden, die ihre Stimme hörbar machen könnten.
„Audience Turn“
Aber Jürgen Habermas warnt: „Wie der Buchdruck alle zu potentiellen Lesern gemacht hatte, so macht die Digitalisierung heute alle zu potentiellen Autoren. Aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen gelernt hatten? […] Auch die Autorenrolle muss gelernt werden; und solange es beim politischen Austausch in den sozialen Medien daran noch fehlt, leidet darunter einstweilen die Qualität der enthemmten, gegen dissonante Meinungen und Kritik abgeschirmten Diskurse.“
Nicht alle Massenmedien leiden
Online-Medien seien vor allem eine Konkurrenz für die Tageszeitungen, sagt Jürgen Habermas. Die Nutzung von Fernsehen, Radio und Bücher sei dagegen stabil geblieben. Die Zahlen sagten aber wenig über die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in den Prozess der Meinungs- und Willensbildung aus. „Ich muss mich daher auf informierte Vermutungen beschränken.“
Anpassung an das Publikum
Jürgen Habermas nimmt ein sinkendes Niveau bei den Medien wahr. Die Leute schienen sich intellektuell nicht mehr für politisch relevante Nachrichten und Probleme zu interessieren. Die klassischen Leitmedien hätten weiterhin ihre Funktion und böten auch weiterhin Anspruchsvolles, die Skepsis der Bevölkerung ihnen gegenüber scheine aber zu wachsen.
Unter wirtschaftlichem Druck und schwindendem Einfluss passten die Medien ihre professionellen Standards an. „In der Veränderung der professionellen Standards spiegelt sich die Anpassung der Presse, die von Haus aus zu einem diskursiven Charakter der staatsbürgerlichen Meinungs- und Willensbildung die größte Affinität hat, an die kommerziellen Dienstleistungen der Plattformen, die um die Aufmerksamkeit von Konsumenten werben. Mit der Durchsetzung von Imperativen der Aufmerksamkeitsökonomie verstärken sich in den neuen Medien freilich auch die aus der Boulevard- und Massenpresse seit langem bekannten Tendenzen zu Unterhaltsamkeit, zur affektiven Aufladung und zur Personalisierung jener Sachthemen, um die es in der politischen Öffentlichkeit geht.“
Nicht zufällig seien die Plattformen aus dem Silicon Valley zeitgleich mit der Ausbreitung des Neoliberalismus groß geworden. Der Markt im Internet musste gar nicht erst dereguliert werden. Trotzdem seien sie zu einem gewissen Grad verantwortlich für journalistische Standards, weil sie eine meinungs- und mentalitätsbildende Kraft hätten.
Es muss sich etwas ändern
Jürgen Habermas hält es für ein verfassungsrechtliches Gebot, dass das Mediensystem so inklusiv gestaltet ist, wie es für den Meinungs- und Willensbildungsprozess in einer deliberativen Demokratie nötig ist. Ohne ein funktionierende Öffentlichkeit verliere der demokratische Staat an Substanz, selbst wenn Regierung und Parlament einen ordentlichen Job machten.
Eine richtige Lösung bietet die Analyse nicht. Das wäre vielleicht zu viel verlangt und sollte wiederum Aufgabe für eine öffentliche Debatte sein: Eine Form von Regulierung der digitalen Medien.
„Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ ist am 12. September 2022 im Suhrkamp Verlag erschienen, hat 108 Seiten und enthält neben dem Essay noch zwei weitere Texte zum Thema. Das Taschenbuch kostet 18 Euro (eBook 15,99€).
Links
- Wikipedia: Strukturwandel der Öffentlichkeit
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