Volksentscheide lösen gar nichts. Das Referendum zum Brexit hinterlässt das Land tief gespalten: Gespalten in EU-Befürworter und EU-Gegner, in jung und alt, in Land und Stadt, gebildet und ungebildet, England und Schottland. Die Parteien sind so zerrissen, wie zum Teil die Familien. Und wer weiß – vielleicht war sogar die Englische Fußballmannschaft zu gespalten, um Island zu besiegen.
Enno Park schreibt als sein Fazit zum Brexit-Referendum, Direkte Demokratie sei eine Demokratie ohne Checks and Balances:
„Die Forderung nach direkter Demokratie klingt immer wohlfeil. Mit ihr lässt sich wunderbar schwadronieren, man wolle dem Volk die ihm vorenthaltene Macht zurück geben. Sie „denen da oben“ wegnehmen. Mit ihr lassen sich Dinge wie Moscheebauverbote durchdrücken, die in einem funktionierenden System aus Checks und Balances sonst keine Chance gehabt hätten. Direkte Demokratie ist etwas für Populisten oder Schlimmeres. Es hat Gründe, dass Leute, die die direkte Demokratie propagieren, sich ganz schnell in einer Querfront wiederfinden. Demokraten, denen an einer funktionierenden Gesellschaft, Grundrechten und geschützten Minderheiten gelegen ist, sollten zusehen, dass sie sich von Forderungen nach direkter Demokratie distanzieren.“
Ich hätte ja auch gerne, dass die Welt so läuft, wie ich mir das vorstell. Volksentscheide scheinen da eine tolle Lösung zu sein: Eine einfache Frage, Ja und Nein als Optionen und da meine Meinung ohnehin die einzig plausible ist, sollte so eine Abstimmung ein Selbstgänger sein.
Allein die Erfahrung widerlegt diese Hoffnung. In den 90ern hat ein Volksentscheid in Schleswig-Holstein die Beibehaltung der alten Rechtschreibung gefordert. Dann hätten die 2,8 Millionen Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner anders geschrieben, als die restlichen 100 Millionen Deutschsprecher. Zurzeit will eine Volksinitiative in Schleswig-Holstein erreichen, dass es einen Gottesbezug in der Präambel der Landesverfassung gibt. In Hamburg hat eine konservative Bürgerinitiative eine Schulreform verhindert, von der nicht nur die eigenen Kinder profitiert hätten.
Das Beispiel Schweiz zeigt in letzter Zeit, dass progressiv denkende Menschen von Referenden tendenziell in die Defensive gebracht werden. Dazu kommt die Frage der Finanzierung. In der Schweiz steht der Milliardär Christoph Blocher hinter der SVP und ihren Kampagnen. Die Kampagne gegen die Abstimmung über die Masseneinwanderung zum Beispiel hat die Schweizer Wirtschaft bezahlt.
In diesem Kampagnen zählen am Ende überhaupt keine Argumente mehr. Im normalen, parlamentarischen Verfahren bekommen idealerweise viele Stimmen Gehör. Da können sich auch Vereine und Verbände zu Wort melden, die Menschen ohne viel Geld vertreten: Der Paritätische Wohlfahrtsverband, der Sozialverband oder die Arbeiterwohlfahrt – nicht nur Monsanto und Rheinmetall, wie immer geunkt wird.
„Alle vier Jahre wählen – was ist das für 1 Demokratie?“ ist ein gängiges Lamento. Wer sich so beklagt übersieht: Eine demokratische Gesellschaft beschränkt sich nicht auf das Parlament. Eine demokratische Gesellschaft ist durch und durch demokratisch organisiert.
„Demokratie darf nicht so weit gehen, dass in der Familie darüber abgestimmt wird, wer der Vater ist“ hat Willy Brandt einmal gesagt. Aber vor der Haustür spätestens fängt die Demokratie an: Schülervertretung, Elternvertretung, Jugend‑, Senioren‑, Behinderten‑, Migranten‑, und Ortsbeiräte, Fach- und Berufsverbände, Vereinen und Gewerkschaften. In Deutschland haben wir eine verhältnismäßig starke Mitbestimmung über die Betriebsräte – in privaten Unternehmen!
Aber interessiert sich irgendwer dafür? Neulich beschwerte sich ein Freund über seine Betriebsrätin. Auf die Frage, warum die denn gewählt wurde, wenn sie so schlecht sei, erklärte er mir: Es habe sich niemand anderes zur Wahl gestellt. Tja nu.
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- via Michael Seemann
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