Vor einigen Jahren schon habe ich mich mal mit Software-Ergonomie auseinander gesetzt. Das ist dann aber in den Ansätzen stecken geblieben und ich habe das Thema eigentlich immer nur noch irgendwo im Unterbewußtsein gehabt. Durch ein aktuelles Projekt bin ich aber über den Begriff „barrierefreier Zugang“ gestolpert und habe das alte Thema wieder aufgegriffen. Schon bei der ersten Recherche habe ich festgestellt, dass das eine unglaublich umfangreiche und komplexe Problematik ist. An dieser Stelle wollte ich einfach mal meine Erfahrungen vorstellen. Dabei kann ich hier natürlich nicht zu sehr auf die Praxis eingehen. Dafür gibt es aber ein paar feine Internetseiten, die am Ende des Artikels zu finden sind.
Barrierefrei – Was ist das?
Laut Behindertengleichstellungsgesetz (BGG §4) sind barrierefrei „[…] bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“
Grundsätzlich sind barrierefreie Internetseiten so gestaltet, dass nicht nur der Otto normal-User am Schreibtisch-PC mit aktuellstem Browser an Inhalte gelangen kann. Barrierefreiheit nimmt nicht nur Rücksicht auf die verschiedensten Hilfsmittel, mit denen behinderte Besucher die Seite wahrnehmen, sondern auch auf User, die mit älteren Browser Versionen surfen, auf besondere Zugangsgeräte usw. Um sich die Größe dieser Usergruppe einmal vor Augen zu führen:
- ca. 10% der männlichen Bevölkerung ist farbfehlsichtig. Internetseiten mit geringen Kontrasten (z. B. Schwarze Schrift auf dunkelblauem Hintergrund) sind für sie praktisch unlesbar. „Zum Bestätigen drücken Sie bitte den grünen Knopf“ ist ebenfalls nicht hilfreich. (Farben)
- ca. 5% der Bevölkerung ist blind oder sehbehindert – Es gibt aber Hilfsmittel für Blinde und Sehbehinderte, die zum Beispiel Texte vorlesen oder sie auf einer Braille-Zeile darstellen.
- ca. 11% der Bevölkerung sind über 65 Jahre alt
- In Deutschland gibt es schätzungsweise 80.000 gehörlose Menschen und etwa 1,5 Millionen sind schwerhörig oder postlingual ertaubt (ausgenommen: Altersschwerhörigkeit). (Gehörlose können doch lesen.…?)
- ca. 5% der Internetnutzer benutzen kein Windows, sondern MacOS oder Linux, PDA oder Handys
- gerade auf großen Internetseiten benutzen immer noch bis zu 20% der
Benutzer die 4er Generation des Netscape Browser (Warum Ihre Besucher keine neuen Browser wollen)
Gerade wer nicht nur Gamer-Kiddies mit 19″ Monitoren ansprechen will, sollte sich deshalb überlegen, wen er mit seinem Killer-Design aussperrt. Ein Blinder, zum Beispiel der die Internetseite seiner Bank nicht nutzen kann, sucht sich eben eine andere Bank. Was macht aber ein Blinder, der die Internetseite seines Einwohnermeldeamtes nicht bedienen kann?
Rechtliches
Seit am 1.Mai 2002 die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) in Kraft getreten ist, sind alle Einrichtungen des Bundes verpflichtet, ihre Internetseiten barrierefrei zu gestalten. In logischer Folge sind nun die Länder am Zug entsprechende Landesverordnungen zu erlassen, die dann Einrichtungen des Landes und der Kommunen in die Pflicht nimmt.
Die BGG und BITV beruhen auf dem Aktionsplan der EU „eEurope 2002″, der initiert im Dezember 1999 im Juni 2000 vom Europarat beschlossen wird. eEurope 2002 hat 3 Ziele:
- Ein billigeres, schnelleres und sichereres Internet
- Förderung der Nutzung des Internets
- Investitionen in Menschen und Fähigkeiten
Punkt 3 umfaßt die Teilnahme möglichst großer Bevölkerungsteile an der Informationstechnologie. Unter dem Begriff „eAccessability“ soll hier der Zugriff auf eCommerce, eGovernment usw. ermöglicht werden. Realisiert werden soll das durch die Übernahme der Leitlinien der Web Accessability Initative.
Richtlinien für die Praxis
Bereits 1999 hat das World Wide Web Consortium (W3C) mit dem Web Content Accessibility Guidelines 1 einen quasi-Standart für barrierefreies Internet-Design (engl. „Accessability“) verabschiedet. Seither haben sich einige dieser Regeln entweder zu restriktiv oder irrelevant, zu unverständlich herausgestellt, oder sie entsprechen nicht mehr dem Stand der Technik. Manche sind international nicht durchsetzbar. Aus diesen Gründen wird zur Zeit an einer Version 2 der Guidelines gearbeitet. Da dieser Standart aber noch im Entwurf ist, bezieht sich dieser Text weiterhin auf die WCAG 1.
Die Richtlinien aus dem Web Content Accessibility Guidelines 1 sind aufgeteilt in 3 Prioritäten:
- Priorität 1: Regeln der Priorität 1 müssen umgesetzt werden.
- Priorität 2: Regeln der Priorität 2 sollten mgesetzt werden.
- Priorität 3: Regeln der Priorität 3 können umgesetzt werden.
Werden Regeln der Priorität 1 verletzt kann man davon ausgehen, dass man eine größere Zahl potentieller Benutzer ausschließt. Verstöße gegen Priorität 3 betreffen dagegen einen kleineren Kreis. Es gibt 14 Richtlinien, deren Unterpunkte jeweils den verschiedenen Prioritäten zugeteilt sind:
- Stellen Sie äquivalente Alternativen für Audio- und visuellen
Inhalt bereit. - Verlassen Sie sich nicht auf Farbe allein.
- Verwenden Sie Markup und Stylesheets und tun Sie dies auf korrekte Weise.
- Verdeutlichen Sie die Verwendung natürlicher Sprache.
- Erstellen Sie Tabellen, die geschmeidig transformieren.
- Sorgen Sie dafür, dass Seiten, die neue Technologien verwenden, geschmeidig
transformieren. - Sorgen Sie für eine Kontrolle des Benutzers über zeitgesteuerte
Änderungen des Inhalts. - Sorgen Sie für direkte Zugänglichkeit eingebetteter Benutzerschnittstellen.
- Wählen Sie ein geräteunabhängiges Design.
- Verwenden Sie Interim-Lösungen.
- Verwenden Sie W3C-Technologien und ‑Richtlinien.
- Stellen Sie Informationen zum Kontext und zur Orientierung bereit.
- Stellen Sie klare Navigationsmechanismen bereit.
- Sorgen Sie dafür, dass Dokumente klar und einfach gehalten sind.
Eine vollständige Liste mit den Unterpunkten und den Prioritäten gibt es bei der Web Accessibility Initiative (WAI). Analog gibt es eine Liste des W3C, mit empfohlenen Techniken zu Umsetzung der Richtlinie (Techniques for Web Content Accessibility Guidelines 1.0)
Der Test – Barrierefrei oder nicht?
Wer seine Seite auf Barrierefreiheit testen will, kann verschiedene online
verfügbare Tools nutzen:
Dabei kann eine barrierefreie Internetseite verschiedene Grade der Barrierefreiheit erreichen:
- Konformität Stufe „A“: Alle Checkpunkte der Priorität 1 sind erfüllt
- Konformität Stufe „Double‑A“: Alle Checkpunkte der Priorität 1 und 2 sind erfüllt
- Konformität Stufe „Triple‑A“: Alle Checkpunkte der Priorität 1, 2 und 3 sind erfüllt
Internetauftritte der öffentlichen Hand müssen mindestens Konformitätsstufe „Double A“ erfüllen, empfohlen wird allerdings „Triple A“.
Nicht nur für Behinderte
Problematisch ist die Zweiteilung der Zielgruppe: Einmal die Behinderten, die für ihre Tools ohnehin die neusten Browser benutzen und auf der anderen Seite die Benutzer, die mit alten Browsern arbeiten. Hier kommt also die Idee eines CMS der Sache sehr entgegen: Die Inhalte sind vom Layout getrennt gespeichert. So ist es möglich über eine Browserabfrage eine klassische Internetseite in HTML 3.0 mit den gleichen Inhalten anzuzeigen wie eine moderne HTML 4.01.
Modernes Webdesign bedeutet in der Praxis vor allem Verzicht auf Tabellen zur Layoutgliederung. Die waren in diesem Zusammenhang schon immer eine Krücke, die auch mit der Zeit nicht besser wird. Moderne Layouts werden per CSS erzeugt. Das barrierefreie, moderne Internetseiten keine Textwüsten sein müssen, kann man dem Beispiel unter http://www.inknoise.com sehen. Tabellen sollte man nur so einsetzen, wie sie gedacht waren: Als Tabellen mit Spalten, Zeilen, Spaltenüberschriften usw. in einer Adressliste zum Beispiel. In dieser Form können auch die Tools blinder User mit Tabellen umgehen.
Zum Weiterlesen
Eine Umfangreiche Sammlung von Praxistipps im Umgang mit barrierefreien Internetseiten findet man im Internet unter http://www.einfach-fuer-alle.de. Dabei handelt es sich um eine Initiative des Aktion Mensch e.V. und gleichzeitig für ein tolles Beispiel für eine barrierefreie, moderne Internetsite mit CSS Design.
Unter www.akademie.de findet sich die größte deutschsprachige Learning-Community im Internet. Auch hier gibt es eine Menge Infos zum Thema barrierefreies Webdesign.
Quellen
- akademie.de asp GmbH – Warum barrierefrei entwickeln?, 6.10.2003
- akademie.de asp GmbH – Hilfsmittel für Blinde und Sehbehinderte, 6.10.2003
- Einfach für alle, Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch
e.V. – Farben,
6.10.2003 - Einfach für alle, Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V. – Warum Ihre Besucher keine neuen Browser wollen, 6.10.2003
- Einfach für alle, Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V. – Gehörlose können doch lesen.…?, 6.10.2003
- Einfach für alle, Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch
e.V. – Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV), 6.10.2003 - Einfach für alle, Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch
e.V. – Nun sind die Länder am Zug, 6.10.2003 - Web Accessibility Initiative (WAI) – Zugänglichkeitsrichtlinien für Web-Inhalte 1.0 W3C-Empfehlung, 5. Mai 1999, 6.10.2003
- Europäische Komission – eEurope 2002, 6.10.2003
- Europäische Komission – eEurope 2005, 6.10.2003
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