„Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“
Wie recht Fritze Nietzsche mit dieser Feststellung hatte, kann man einmal mehr eindrucksvoll im amerikanischen Wahlkampf sehen. Da wird das Prinzip „Wahrheit“ bis zum Anschlag gedehnt. Nicht ohne Grund melden sich Osama bin Laden und Eminem genau ein paar Tage vor den Wahlen zu Wort. Nicht umsonst läuft „Fahrenheit 9/11“ am Vorabend der Wahl im amerikanischen Fernsehen. Es kommt eben nicht nur darauf an überhaupt etwas zu sagen, sondern auch es zum richtigen Zeitpunkt zu sagen. Diese offensichtliche Berechnung macht die Aussagen aber leider nicht glaubwürdiger und unterschätzt die Intelligenz der meisten Menschen.
Daneben wird eine weitere Eigenschaft von Wahrheit und Lüge deutlich: Die Lügen über Massenvernichtungswaffen im Irak und den Zusammenhang von Saddam Hussein und Al-Quaida haben niemanden ernsthaft gestört – erst jetzt, nachdem täglich amerikanische und englische Söhne, Töchter, Väter, Mütter, Ehemänner und ‑frauen sterben regt sich das Gemüt der Amerikaner. Oder wie es Nietzsche ausdrückte: „Die Menschen fliehen dabei das Betrogenwerden nicht so sehr als das Beschädigtwerden durch Betrug: sie hassen, auch auf dieser Stufe, im Grunde nicht die Täuschung, sondern die schlimmen, feindseligen Folgen gewisser Gattungen von Täuschungen.“
Dadurch erklärt sich auch, warum Politker in Zeiten der Wahl das blaue vom Himmel versprechen können, ohne nach einem Jahr von einer zornigen Meute aus dem Amt getrieben zu werden: Es ist irrelevant, was er sagt, denn nur an den Taten wird er gemessen werden. Das ist der ewige Trumpf der Opposition – sie hat keine Taten zu rechtfertigen und kann alles versprechen.
Schön ist die sofortige Entspannung, die nach einer Wahl eintritt. Es ist nicht nur die Entspannung nach der Anspannung im Wahlkampf; der Allgegenwart der Themen – es ist auch die Entspannung der Wahrheit, die sich wieder auf ein Normalmaß zurückbilden kann.
„Wahrhaft zu sein, das heißt die usuellen Metaphern zu brauchen, also moralisch ausgedrückt: von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen.“ F.Nietzsche
Links:
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, Friedrich Nietzsche (1873)
Schreibe einen Kommentar