„Morgen streiken die Lokführer!“ Vor einigen Wochen war ich zu einer Fortbildung in Hessen. Mitten hinein in den zweiten Tag kam die Nachricht: Keine Bahn mehr würde fahren! An unserem Abreisetag! Plötzlich war Deutschland riesig groß. Wie kommt man nach Hause, wenn man nicht mit der Bahn fahren kann? Zum Flughafen würde ich mit einem Taxi kommen aber ein Flugzeug bringt mich auch nur nach Hamburg. Bei all der Überlegerei musste ich an die Menschen denken, von denen dieser Tage häufig die Rede ist: Flüchtlinge – Flüchtlinge aus dem Irak oder Syrien, die vor dem Krieg dort fliehen. Wie schaffen die das bloß, wenn mich schon eine Fahrt durch das sichere Deutschland herausfordert?
Ich treffe mich mit Sirwan Baban. Sirwan ist vor 18 Jahren selbst aus dem Irak nach Deutschland gekommen. Er ist damals vor Saddam Hussein geflohen, der zu dieser Zeit brutal gegen die Kurden vorging. Sirwan Baban ist Kurde. „Zunächst haben die Menschen schon vor ihrer Flucht eine Menge durchgemacht,“ erklärt er mir. „Sie haben Gewalt erlebt, Verwandte verloren. Und dann müssen sie alles hinter sich lassen. Freunde, Familie – ihre Heimat. Manche schaffen es, etwas Geld mitzunehmen.“
Natürlich – wer hat schon sein Geld zu Hause rumliegen? Die meisten von uns haben ihr Geld bei der Bank. Das ist in Syrien und im Irak nicht anders. Wenn die Bank nicht mehr öffnet, muss man ohne Geld los. Sirwan hat sich damals mit seiner Frau und seinem neugeborenen Sohn auf den Weg gemacht – illegal über die Grenze zur Türkei. Zu der Zeit lebten die Kurden dort im Konflikt mit dem türkischen Staat. Sirwan berichtet mir von Minenfeldern und Straßensperren. „Schleuser zeigen dir den Weg und dann marschiert man. Nachts. Mit Frau und Kind und vielen anderen Flüchtlingen.“
Danach ging es dann weiter mit dem Bus nach Ankara und Istanbul. „Wer erwischt wurde, den brachte die Polizei wieder zurück über die Grenzen. Viele mussten den Weg immer wieder machen, bis sie es nach Istanbul schafften.“ Mit einem kleinen, völlig überladenen Boot hat er sich und seine Familie nach Griechenland bringen lassen. Ich frage ihn, wie man denn so ein Boot findet. Wie findet man einen Schleuser, wenn man sich nicht auskennt und die Sprache nicht spricht?
„Istanbul ist voller Flüchtlinge,“ erklärt mir Sirwan. „Die Schleuser finden Dich. Und mit ein wenig Sprachtalent und Händen und Füßen ist dann schnell klar, wie man hinüber kommt und was das kostet.“
Sirwan Baban arbeitet heute als Dolmetscher und Betreuer. Er hat viel mit den Flüchtlingen in der Erstaufnahmestelle in Neumünster zu tun. Die platzt zur Zeit wegen der vielen Fliehenden vor dem Krieg in Irak und Syrien aus allen Nähten. Die Flüchtlinge dort kommen oft auch über Bulgarien und Rumänien nach Deutschland. Sirwan erzählt mir, dass sie manchmal auch Organe an ihre Schleuser verkaufen mussten, um weiter zu kommen. Oder die Schleuser haben ihre Frauen und Mädchen vergewaltigt, wenn das Geld nicht reichte. „Das ist eine Mafia,“ sagt Sirwan.
Er ist damals in Griechenland freundlich aufgenommen worden. Den Griechen ging es in den 90ern noch gut und sie hatten Mitleid mit den Flüchtlingen. Nach einiger Zeit erst, ist er mit seiner Familie weiter gereist: Mit dem Schiff nach Italien und dann nach Bayern. Später zog er nach Schleswig-Holstein. „Die waren sehr nett zu uns. Man geht einfach zur Polizei und bittet um Asyl. Man kann auch direkt zur Aufnahmestelle in Neumünster gehen.“
Hier können die Menschen das erste Mal nach sehr langer Zeit zur Ruhe kommen. „Man wohnt zwar auf engem Raum, aber man ist sicher, man hat ein Dach über dem Kopf und man bekommt etwas zu essen.“ In Neumünster leben Menschen verschiedener Nationalität. „Die wollen alle nur ihre Ruhe haben.“ Streit gäbe es da nicht mehr als anderswo auch – trotz des beschränkten Raumes. „Da gibt es alles – einfache Leute bis hin zum Minister. Ich hab auch schon einen ehemaligen Minister in Neumünster getroffen.“ Auf der Flucht sind alle gleich.
Die Diakonie betreibt ein Café mit Beratungsstelle gegenüber der Flüchtlingsunterkunft. Dort hilft Sirwan Baban den Menschen dabei, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Außerdem möchte er die Flüchtlinge mit den Neumünsteranern zusammen bringen. Er möchte etwas zurückgeben – so sehr hat man ihm in Deutschland geholfen. Ob er manchmal Heimweh hat, frage ich ihn. „Jeden Tag. Ich vermisse meine Heimat,“ sagt Sirwan und lächelt.
Ich bin dann damals während des Streiks der Lokführer aus Hessen mit einer Kollegin im Auto nach Hamburg mitgenommen worden. Dort fuhren Ersatzbusse nach Kiel, die hatten sogar WLAN an Bord. Alles gar kein Problem.
Dieser Text ist zuerst beim Landesblog erschienen.
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