So langsam erreicht das Phänomen die deutsche Öffentlichkeit: Bei SWR2 Forum wird diskutiert, warum deutsche Krimis so flach sind. Der DRadio Wissen Onlinetalk feiert amerikanische Serien als den „neuen Roman“. Und die SÜDDEUTSCHE stellt am Rande der Verleihung des deutschen Fernsehpreises fest, dass nach deutschen Maßstäben in den USA eigentlich die 44. Staffel „Die Waltons“ laufen müsste. Wie es der Zufall will, habe ich es gerade geschafft, „The Wire“ zu Ende zu gucken – eine Krimiserie „to end all Krimiserien“.
David Simon ist ein ehemaliger Reporter der „Baltimore Sun“, der sich nach dem Zusammenbruch des Print-Journalismus darauf verlegt hat, seine Beobachtungen in Fernsehserien zu verarbeiten. Als er die Idee zu „The Wire“ dem US-amerikanischen Pay-TV-Sender HBO verstellte, haben die erst abgelehnt, berichtet die FAZ: Krimi war denen zu primitiv. Ganz nach dem Sender-Motto „It’s not TV. It’s HBO“, sagten die Entscheider: Krimi ist Fernsehen. Simon bestand auf seiner Idee und argumentierte, dass „The Wire“ so gut werde, dass die Leute CSI & Co. nicht mehr ertragen würden. Und tatsächlich ist „The Wire“ so komplex, dass jede Folge Navy CIS dagegen wie patriotisches Puppentheater wirkt.
„The Wire“ baut über fünf Staffeln ein umfassendes Bild der Stadt Baltimore auf: Beginnt es in der ersten Staffel noch fast klassisch mit Drogen-Dealern gegen Polizei, sieht man schon in den ersten Minuten den Unterschied: Kein Hightech – die Polizeibeamten unterhalten sich sogar darüber, dass sie überhaupt mal Computer ins Büro bekommen sollen. In der zweiten Staffel erfährt man, wie die Drogen in die Stadt kommen und wie der Niedergang der Industrie die Mittelschicht mit sich reißt.
Nach und nach werden dann neue Komplexitätsschichten über die eigentliche Geschichte gelegt: Familien, Schulen, Politik, Medien. Die Serie nimmt sich Zeit, die Geschichten von bestimmt zwei Dutzend Personen zu erzählen. In einem Interview hat David Simon gesagt, dass er wollte, dass die gezeigten Personengruppen sich realistisch dargestellt finden. Niemand ist da nur ein Typ. Niemand ist einfach nur der „Politiker“, die „Polizistin“, der „Gangster“ und niemand ist einfach nur gut oder böse. Alle Charaktere stecken in einem System, dass ihnen nur bestimmte Handlungsmöglichkeiten lässt. Alle sind mal egoistisch oder dumm und dann wieder schlitzohrig und gutmütig. Und alle gemeinsam stecken in einem Teufelskreis.
Die ganze Stadt befindet sich im wirtschaftlichen Abstieg, die Armen kämpfen ums Überleben und der Staat versucht mit schrumpfenden Mitteln, die Lage zu verbessern oder zumindest die alte Ordnung aufrecht zu erhalten. Und Baltimore ist offenbar eine durchschnittliche US-Amerikanische Stadt. Der Krieg gegen Drogen ist damit ein Krieg gegen die Unterschicht. In Interviews beklagt David Simon darüberhinaus, die Privatisierung des Strafvollzugs. Es gibt eine ganze Branche, die davon profitiert, wenn möglichst viele Menschen im Gefängnis sitzen. Simon bezeichnet die USA als „The Gulag Nation of the World“ – mehr Menschen sitzen hier im Gefängnis als irgendwo auf der Welt. Nicht nur in Relation, sondern auch in absoluten Zahlen sitzen in den USA mehr Menschen im Gefängnis als zum Beispiel in China. Statt eines Sozialsystems haben die USA eine Armee und Gefängnisse.
Zur Zeit läuft in den USA Simons neue Serien „Treme“ über den gleichnamigen Stadtteil von New Orleans, in dem die sozialen Auswirkungen des Hurrikan Katrina das Thema sind. Solche Serien gibt es in Deutschland nicht. Hier gibt es entweder die episodische Tatort-Welt, bei denen am Ende von 90 Minuten die Welt wieder in Ordnung ist. Oder es gibt Scripted Reality, die so tut, als würde sie echte Probleme zeigen. Ich kann verstehen, dass aufwendige Kino-Blockbuster aus vielerlei Gründen nicht so einfach aus Deutschland kommen. Die Themen aber von Scripted Reality und das Budget des Tatorts vereint mit dem ernsthaften Interesse an echten Geschichten, wäre etwas, was auch in Deutschland funktionieren müsste.
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