Demokratische Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens demokratisch organisiert sind. Eine Ausnahme ist die Wirtschaft. Die funktioniere nach dem Vorbild kommunistischer Regime, meint die US-Amerikanische Philosophie-Professorin Elizabeth Anderson.
Sei Jahrzehnten predigt uns der Neoliberalismus: Weg mit den Regeln für die Wirtschaft, dann wird es allen gut gehen und alle werden frei. Woher kommt dieser Glaube? Und warum war das sogar ursprünglich ein „linkes“ Projekt, wie Elizabeth Anderson behauptet?
Die Wurzeln der Marktideologie
Während im Europa des 17. Jahrhunderts klare Hierarchien über die Menschen herrschten, gab es in den frühen USA die Chance für eine egalitäre Gesellschaft, in der alle auf Augenhöhe miteinander umgehen konnten. In Europa herrschte der Mann über die Frau, der Meister über die Lehrlinge, die Gilde über die Meister, der König über die Bevölkerung und über allem herrschte Gott.
Da die Menschen auch wirtschaftlich abhängig von ihren Herrschern waren, mussten sie sich bedingungslos unterwerfen. Die Herrscher mussten keine Rechenschaft über ihr Handeln ablegen. Erst als dieses Verhältnis sich aufweichte und es immer mehr unabhängige Handwerker und Händler gab, entwickelte sich der Gedanke einer Gesellschaft der Gleichen.
In den USA nahm man der Urbevölkerung einfach nach und nach das Land weg. Dadurch war lang Zeit kaum ein weißer Mann gezwungen für einen anderen zu arbeiten. Es gab immer die Option, sich selbstständig zu machen oder in den Westen zu ziehen und Kleinbauer zu werden. In einer solchen Gesellschaft war es gar nicht sinnvoll, dass der Staat groß hineinregiert.
Diese Ideologie von einer egalitären Gesellschaft von Kleinunternehmern war das Programm der Republikaner um Abraham Lincoln, als sie die Sklaverei abschaffen wollten. Sklaven-Plantages waren große Unternehmen, die vielen Kleinbauern den Platz und die Chancen wegnahmen. Deswegen versprach Abraham Lincoln den befreiten Sklaven, die Aufteilung der Plantagen, damit auch sie Kleinbauern werden könnten. Das wurde dann aber nicht umgesetzt.
Und dann kam die Industrialisierung
Die Industrialisierung walzte diese in Ansätzen vorhandene Gesellschaft der Gleichen hinfort. Stattdessen entstanden immer größere Unternehmen, die immer mehr Menschen immer schlechter gehandelten. Die Chancen für Arbeiter, einfach nach Westen zu gehen und sich selbstständig zu machen, verschwanden nach und nach. Die Arbeiter wurden immer abhängiger von ihren Arbeitgebern. Die Gesellschaft der Gleichen verschwand, die Marktideologie blieb – obwohl im Laufe der Zeit auch die Chancen für Unternehmensgründungen immer schlechter wurden.
Adam Smith hat in „Wealth of the Nations“ eine präindustrielle Gesellschaft von Bäckern und Schlachtern beschrieben, in der der Eigennutz zum Wohlstand führen sollte. Er hatte keine Gesellschaft von Millionen abhängig Beschäftigter vor Augen und lehnte angehäuften Reichtum ab.
Sich heute noch auf seine „unsichtbare Hand des Marktes“ zu berufen, ist absurd. Der Staat muss eingreifen, um das Machtgefälle zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen auszugleichen. Er muss Vermögen umverteilen. Sonst entfernen sich die Gesellschaften immer mehr vom demokratischen Ideal einer Gesellschaft der Gleichen.
Kommunistische Diktaturen in unserer Mitte
Elizabeth Anderson beschreibt die heutigen Verhältnisse in der Wirtschaft wie folgt:
„Stellen wir uns eine Regierung vor, die fast jedem einen Vorgesetzten zuweist, dem man gehorchen muss. Obwohl die Vorgesetzten den meisten Untergebenen eine Arbeitsroutine vorgeben, der zu folgen ist, gibt es keine Herrschaft des Rechts. Die Anweisungen können willkürlich erfolgen und sich ohne vorherige Ankündigung oder Einspruchsmöglichkeit jederzeit ändern. Die Vorgesetzten sind gegenüber denjenigen, die sie herumkommandieren, nicht rechenschaftspflichtig. Sie sind von ihren Untergebenen weder gewählt noch von ihnen absetzbar. Die Untergebenen haben bis auf wenige engdefinierte Fälle kein Recht, bei Gericht Beschwerde darüber einzulegen, wie sie behandelt werden. Sie haben zudem kein Recht darauf, bei sie betreffenden Anweisungen beratend einbezogen zu werden.
In der Gesellschaft, die von dieser Regierung beherrscht wird, gibt es mehrere Hierarchieebenen und ‑ränge. Der Inhalt der Anweisungen, die den Menschen erteilt werden, variiert je nach ihrem Rang. Den höherrangigen Individuen kann erhebliche Entscheidungsfreiheit bei der Ausführung der ihnen gegebenen Anweisungen einge räumt werden, und sie können ihrerseits bestimmten Untergebenen einige Anweisungen erteilen. Das hochrangigste Individuum nimmt keine Anweisungen entgegen, erteilt jedoch viele. Bei den auf den untersten Rängen Platzierten können Körperbewegungen und Kommunikation über einen Großteil des Tages genauestens kontrolliert werden.
Diese Regierung akzeptiert keine persönliche oder private Sphäre der Autonomie, die sanktionsfrei wäre. Sie kann Kleidervorschriften erlassen und bestimmte Frisuren verbieten. Jedermann lebt unter Überwachung, womit sichergestellt wird, dass die Anweisungen von allen eingehalten werden. Die Vorgesetzten können in den E‑Mails der Untergebenen herumschnüffeln und deren Telefongespräche aufzeichnen. Anlasslose körperliche Durchsuchung und Inspektionen persönlicher Gegenstände können an der Tagesordnung sein. Die Untergebenen können zu medizinischen Untersuchungen beordert werden. Die Regierung kann die Sprache diktieren und Gespräche in anderen Sprachen verbieten. Sie kann die Diskussion bestimmter Themen untersagen. Mitglieder dieser Gesellschaft können wegen ihrer im Konsens erfolgten sexuellen Aktivität oder wegen der Wahl eines Ehepartners oder einer Lebensgefährtin sanktioniert werden. Sie können wegen ihrer politischen Aktivität belangt werden und von ihnen kann gefordert werden, sich in einer Form politisch zu beteiligen, mit der sie nicht einverstanden sind.
Das von dieser Regierung geführte Wirtschaftssystem der Gesellschaft ist kommunistisch. Außer der Arbeit selbst besitzt die Regierung alle Produktionsmittel in der Gesellschaft, die sie regiert. Sie organisiert die Produktion mit Hilfe zentralistischer Planung. Die Regierungsform ist eine Diktatur. In manchen Fällen wird der Diktator von einer Oligarchie ernannt. In anderen Fällen ist der Diktator selbsternannt.
Obgleich die Kontrolle, die diese Regierung über ihre Mitglieder ausübt, allgegenwärtig ist, sind ihre Sanktionsbefugnisse begrenzt. Sie kann niemanden wegen der Missachtung von Anordnungen hinrichten oder inhaftieren lassen. Sie kann aber einzelne Mitglieder auf untere Ränge zurückstufen. Die am häufigsten verhängte Sanktion ist die Exilierung. Den Individuen steht es auch von sich aus frei zu emigrieren, doch wenn sie das tun, gibt es normalerweise kein Zurück. Exil oder Emigration können schwerwiegende Nebenfolgen haben. Die große Mehrheit hat keine weitere realistische Option, als die Einwanderung in eine andere kommunistische Diktatur zu versuchen, von denen allerdings viele zur Auswahl stehen. Ein paar Individuen schaffen es, in das anarchische Hinterland zu entkommen oder ihre eigene Diktatur zu errichten.
Diese Regierung sichert sich Einverständnis und Wohlverhalten meistens mit dem Zuckerbrot. Da sie alle Einkommen in der Gesellschaft steuert, zahlt sie denjenigen mehr, die ihre Anordnungen besonders gut befolgen, und befördert sie auf höhere Ränge. Weil sie die Kommunikation kontrolliert, verfügt sie auch über einen Propagandaapparat, dem es nicht selten gelingt, viele Unterstützer für das Regime zu gewinnen. Dies muss überhaupt nicht auf Gehirnwäsche hinauslaufen. In vielen Fällen unterstützen die Menschen das Regime bereitwillig und fügen sich dessen Anordnungen, weil sie sich damit identifizieren und von ihm profitieren. Andere stehen hinter dem Regime, weil sie auch dann, wenn sie selbst einem Vorgesetzten untergeordnet sind, Gelegenheit haben, Herrschaft über jene auszuüben, die ihnen unterstellt sind.
Es sollte also nicht überraschen, dass der Rückhalt für das Regime aus diesen Gründen meist umso stärker wird, je höher der Rang ist, den eine Person innehat.
Wären Menschen, die einer solchen Regierung unterworfen sind, frei?“
Elizabeth Anderson präsentierte keine fertigen Lösungen. Sie sagt auch nicht, dass man Unternehmen einfach demokratisieren sollte. Dabei würde zu viel Produktivität verloren gehen. Sie diskutiert kurz die deutsche Betriebsverfassung – unser System der Mitbestimmung, das weltweit wohl das weitestgehende Konzept von Wirtschaftsdemokratie ist. Perfekt sei auch das noch nicht – es gebe den Arbeitnehmer:innen aber schon wesentlich mehr demokratischen Einfluss darauf, wie sie arbeiten. Gleichzeitig ist Deutschland eine sehr erfolgreiche Wirtschaft. Man müsse aber mehr Raum schaffen, um mit unterschiedlichen Ansätzen zu experimentieren, um die Wirtschaft menschlicher zu gestalten.
„Private Regierung – Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)“ hat 259 Seiten, ist im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet in der gebundenen Ausgabe 28 Euro.
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