Bis vor Kurzem war der „Selfie“ eine Ausdrucksform von Jugendlichen: Denn wer sich auf Facebook & Co. präsentieren will, der benötigt ein angemessen cooles Foto von sich selbst. Da sich junge Menschen den Gang zum professionellen Fotografen nur selten leisten können und Mama und Papa in der Regel kein geeigneter Ersatz sind, greifen sie zur Selbsthilfe. Mit dem Mobiltelefon am langen Arm oder im Spiegel fotografieren sie sich einfach selbst. Auf diese Art kann man so lange mit der eigenen Optik herumprobieren, bis man einen Ausschnitt von sich selbst fotografiert hat, der irgendwie spannend aussieht.
Erst die digitale Fotografie hat dieses Phänomen möglich gemacht. Der „Selfie“ funktioniert schlichtweg nicht gut mit einer Kleinbildkamera und einem 36er-Film. In meiner Jugend hätte man nie gewusst, was man fotografiert hat, und die Ergebnisse konnte man sich erst zwei Wochen später beim Fotohändler abholen. Wenn ich früher ein Foto von mir selbst machen wollte, hätte ich mit Papas Auto zu schnell durch eine Radarfalle fahren müssen. Das „Selfie“-Verfahren macht heute alles unkomplizierter, schneller und billiger.
Seit diesem Jahr hat der „Selfie“ den Sprung in den Mainstream geschafft: Bei den Oscar-Verleihungen Anfang März hat die Moderatorin Ellen DeGeneres ein Foto von sich zusammen mit einer ganze Horde Stars wie Brad Pitt, Kevin Spacey, Angelina Jolie gemacht und auf Twitter gestellt – Es wurde das am meisten gesehene Bild in der Geschichte von Twitter.
Wenn es so ein populäres Vorbild gibt, dauert es nie lange, bis die Nachahmer folgen. Auf Deutsch ist das dann die Echo-Verleihung, und Helene Fischer fotografiert sich mit den Musikern von „Boss Hoss“. Wenn ich jemandem von außerhalb den Unterschied zwischen den USA und Deutschland erklären möchte, zeige ich diese zwei Fotos – und alles ist klar. Schade eigentlich, dass der „Selfie“ nicht für das Foto im Personalausweis taugt. Aber die amtliche Anerkennung ist sicher nur eine Frage der Zeit.
Dieser Artikel ist zuerst am 5. April 2014 bei shz.de erschienen.
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