Ausgewogene, intelligente Essays zum Internet sind selten: Zumeist feiern sie entweder die unbegrenzten Möglichkeiten unkritisch ab oder sie ziehen das Konzept an sich in Zweifel. So fühlte sich zuletzt gerade FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher überfordert. Stefan Münker fällt weder in das eine, noch in das andere Extrem. In „Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0“ stellt er die Diskussion vom Kopf auf die Füße und stellt fest: „Andere Öffentlichkeiten als digitale wird es […] auf absehbare Zeit nicht mehr geben.“ – Also sollten wir lernen, damit zu leben.
Stefan Münker ist Medienwissenschaftler und in der Zentralredaktion Kultur und Wissenschaft des ZDF tätig. Schon in früheren Veröffentlichungen hat sich Münker wissenschaftlich mit dem Internet auseinandergesetzt. In „Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0“ aktualisiert er seinen Standpunkt in Reflexion des Schlagwortes „Web 2.0“.
Technische Basis und mediale Nutzung
Ein wichtiger Punkt in der Argumentation Münkers ist die Unterscheidung zwischen der technischen Basis und der Nutzung:
„Technische Entwicklung eröffnen Möglichkeitsräume, deren experimentelle Erkundung Medien generiert.“ (Seite 59)
Mit der Erfindung des Telefons war es möglich Töne über lange Distanzen zu transportieren. Doch was man übertrug war nicht von Anfang an klar. Münker berichtet, dass in der Frühzeit auch Konzerte per Telefon übertragen wurden. Seine heute spezifische Nutzungsweise hat sich erst im Laufe der Zeit herausgestellt und verändert sich immer noch. Im Prinzip waren dieser Arguemtationslinie folgend, die ersten Akkustikkoppler und Modem der Versuch die Übertragung von Tönen zur Übertragung von digitalen Daten umzunutzen.
Kausalistäten
Mein Lieblingssatz aus dem Buch ist:
„Das Apriori der medien als transzendentaler Bedingungen der Möglichkeiten, welche sie erst eröffnen, ist auch die Grundlage des medientechnischen Determinismus – der das Apriori dann jedoch in unfreiwilliger, vulgärmarxistischer Naivität als ein Kausalverhältnis mißdeutet und die notwendige Bedingung deutet.“ (Seite 57)
Es ist nicht nur mein Lieblingssatz, weil er so wunderbar intellektualistisch formuliert ist, sondern auch deswegen, weil so viel Wahres darin steckt: Das Internet bewirkt nicht den gesellschaftlichen, den wirtschaftlichen oder politischen Wandel – Das Internet wird zur Wandlung von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik genutzt. Natürlich bietet das Internet überhaupt erst das technische Potential für partizipative Mediennutzung – Die Nutzung dieses Potentials ist aber nicht zwingend.
Medienphilosophie
Besondere Kraft entfaltet das Essay, wenn es die Phänomene des Web 2.0 in den philosophischen Zusammenhang zwischen Kant, Hegel, oder Habermas stellt. Dann bekommt die Diskussion eine Tiefe, die sie sonst eher selten hat.
„Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0“ ist der wichtigste Beitrag zur Debatte über das Internet als Öffentlichkeit mit politischer und gesellschaftlicher Wirkung, der mir in letzter Zeit über den Weg gelaufen ist. Das 130 Seiten lange Bändchen wendet sich aber nicht nur an „Digital Natives“ – Man muss nicht über einen Account bei Twitter, Facebook und Wave verfügen, um ihn zu verstehen. Für Digital Natives könnte es deswegen unter Umständen zwischenzeitlich langatmig erscheinen.
„Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0″ von Stefan Münker ist im Suhrkamp-Verlag erschienen und kostet 10,- Euro.
Links
- Amazon.de: „Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0″
- Wikipedia: Stefan Münker
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