Bei Aristoteles ist die Freundschaft noch idealisiert. Heutige Denker sind da pragmatischer.
„Der Mensch ist nach Aristoteles eben kein Konfliktwesen, sondern ein soziales Wesen schon im Bereich des Vorpolitischen. Vergegenwärtigen wir uns kurz, wie die Lebensformen sich in der griechischen Polis gestalteten, so fällt auf, dass die Bürger in überschaubaren, relativ homogenen Einheiten lebten. In dem Stadtviertel, in der Phratrie, kannte man sich untereinander. Es gab keine in unserem Sinne staatlichen Institutionen, wie Feuerwehr, Gesundheitsversorgung, Schulen, Polizei, so dass wichtige Aufgaben, die die Gemeinschaft betrafen, von den interessierten Bürgern selber wahrgenommen werden mussten. Ohne einen gewissen Grundkonsens, bei dem öffentliche Notwendigkeiten und privaten Interessen zusammenfallen, ist das Funktionieren einer Gemeinschaft nicht denkbar. Die Polis war ein funktionales Netz. Ohne Bürgerfreundschaft konnte die Polis nicht existieren. Diese Art funktional-freundschaftlicher Nachbarschaftshilfe, wie wir es heute nennen würden, ist dann für die Polis die wünschenswerte Bürgertugend.“
Nordhofen, Seite 28f
Aus dieser Perspektive verwundert Aristoteles’ Begründung der Freundschaft als wichtiges Element der gesellschaftlichen Integrität nicht. Bei ihm dienen die meisten Freundschaften einem Zweck. Obwohl man den Nachbarn nicht leiden kann, pflegt man das Verhältnis zu ihm, weil man ihn brauchen könnte, wenn das eigene Haus einmal brennen sollte.
Nun haben sich die gesellschaftlichen Strukturen seit Aristoteles vor allem in den letzten 2000 Jahren stark verändert:
„Viele hunderttausend Jahre lang vermehrte sich die Menschheit mit einer Wachstumsrate von rund 0,002 Prozent. […] Dann, in einer dafür unglaublich kurzen Zeitspanne von wenigen hundert Jahren, sprang diese Rate auf rund 2 Prozent und damit auf das Tausendfache. […] [1830:] die erste Millarde war erreicht. […] 1930 bereits die zweite, 1960 die dritte Milliarde, d.h. Für den Anstieg von 3,5 (1970) auf 4,5 Milliarden (1980), haben wir gerade zehn Jahre gebraucht. Eine solche einschneidende Änderung in der Dichte des Zusammenlebend verlangt von einer Population ebenso einschneidende Änderungen in ihrem Verhalten und ihren Organisationsformen, verlangt den Schritt auf eine neue Kulturstufe.“
Vester, Seite 447
Mittlerweile leben weit über 6 Milliarden Menschen auf der Welt (United Nations, Seite 5) und es werden täglich mehr. Doch nicht nur gibt wesentlich mehr Menschen – die Bindungen zwischen den Menschen wie Aristoteles sie beschrieb verschwinden durch Prozesse wie die Individualisierung, die Globalisierung, die Medialisierung usw.
Die Menschen leben also mit mehr Menschen auf engem Raum, sie wechseln auf grund der gestiegenen Mobilität häufiger den Standort und können durch die Medien leichter Anteil an Schicksalen über grosse Distanzen hinweg nehmen, traditionelle familäre Strukturen verfallen und trotz alledem oder vielmehr gerade deswegen ist die Freundschaft so aktuell wie zu Aristoteles Zeiten. Jedoch nicht die vollkommene Freundschaft, von der aber auch schon Aristoteles annimmt, „dass solche Freundschaften selten sind.“ (Aristoteles, Seite 286)
Eine Freundschaft wie bei Simmel beschrieben, die differenziert völlig eigenständige Qualitäten entwickelt, taugt viel eher als beständiges Moment in einer unbeständigen Gesellschaft, da sie Individuen aneinander bindet.
Die Freundschaft ist nicht durch die Bürde einer vollkommene Verschmelzung der Seelen belastet, sondern bleibt flexibel und anpassungsfähig – Das Band der Freundschaft ist nicht mehr das Seil, dass zwei Seelen untrennbar vereint, sondern ein Gummiband.
Zieht zum Beispiel ein Freund in ein anderes Land, so wird sich die Freundschaft defintiv verändern. Sie kann aber weiterhin Bestand haben und entwickelt eine andere (keine bessere oder schlechtere) Qualität.
Stanley Milgram’s „Small World Theory“ besagt zum Beispiel, dass jeder Mensch mit jedem anderen um höchstens sechs Ecken bekannt ist (Six degrees of separation). Robert Nozick beschreibt diese Verhälnisse als „kreuz und quer verlaufendes Netz von Freundschaften“ (Nozick, Seite 92). Der Zweck einer Freundschaft ist nicht mehr wie in der Polis ein sozialer, sondern ein privater. Die Zuneigung ist eine private, individuelle und die Verpflichtung auch. Eine moralische Bewertung fällt entsprechend schwer.
Die moralische Qualität der vielgestaltigen Freundschaft entsteht vielmehr im globalen Netz der Freundschaft. Dies ist aber nicht die beklagte Vielfreundschaft bei Aristoteles (Aristoteles, Seite 326), sondern die unbeschreibbare Freundschaft im Sinne eines Derrida (Eichler, Seite 199).
Literatur
- ARISTOTELES – Die Nikomachische Ethik (2002), DTV, München
- EICHLER, Klaus-Dieter (Hrsg.) – in: „Philosophie der Freundschaft“ (1999), Reclam Verlag, Leipzig
- ILLOUZ, Eva – „Der Konsum der Romantik“ (2003) Campus Verlag, Frankfurt/Main
- NORDHOFEN, Susanne – „Aristoteles: Über Freundschaft“ in: „Philosophische Meisterstücke II“ (2001) Philip Reclam jun., Stuttgart
- VON THADDEN, Elisabeth – „O Freunde, gibt es keine Freunde?“ in: Die Zeit (24/2000)
- UNITED NATIONS, Population Division – The World at Six Billion (1999) Link – 5.8.2004
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