Immer wieder wird darüber diskutiert, ob das Konzept „Partei“ noch zeitgemäß ist. Die Menschen wollten sich nicht mehr ideologisch binden und nur noch projekthaft engagieren. Außerdem seien Parteien unbewegliche Kolosse, die nicht mehr in die Zeit passten. Auch wenn ein Teil der Kritik zutreffend ist – Parteien wird es in irgendeiner Form immer geben und Langsamkeit ist eine ihrer Grundeigenschaften.
In Deutschland leben 80 Millionen Einwohner, die alle unterschiedlichste Motivationen und Interessen haben. Wenn wir uns gemeinsame Regeln geben wollen, müssen wir uns irgendwie herausfinden, wofür wir eine Regel brauchen und dann, wie diese Regel aussehen soll. Politische Fragen sind dabei diejenigen, die man nicht objektiv, naturwissenschaftlich entscheiden kann. Wir müssen also nicht darüber abstimmen, wie warm es ist, oder wie weit es von Berlin nach Hamburg ist. Wir können aber darüber abstimmen, wie schnell man von Berlin nach Hamburg fahren darf. Dazu brauchen wir einen Prozess, in dem aus 80 Millionen diffusen Ideen eine konkrete Ja/Nein-Frage wird: Generelles Tempolimit 130 auf Autobahnen?
Da gibt es Leute, die an Autobahnen wohnen, und die der Lärm stört. Da gibt es ehrenamtliche Sanitäter, die gerne weniger Unfallopfer betreuen würden. Da gibt es Autofahrer, die ihre teuren Autos auch mach „ausfahren“ wollen. Da gibt es eine Autoindustrie, die vom Ruf der deutschen Autobahn lebt und ihre Arbeiter. Da gibt es Umweltschützer. Und noch viele mehr. Erst einmal sind das alles einzelne Menschen, die in der Demokratie genau eine Stimme haben. Einzeln wird man aber nicht gehört. Also sucht man sich Gleichgesinnte. Die Anwohner gründen eine Bürgerinitiative, die Sanitäter einen Verband, die Autofahrer gründen einen Autofahrerclub, die Industrie einen Verband, die Arbeiter eine Gewerkschaft und die Umweltschützer einen Verein. So finden sich Menschen mit ähnlichen Interessen zusammen – Interessen sind übrigens nicht „Ich interessiere mich für schnelle Autos“ sondern „Ich habe ein Interesse daran, dass man schnell auf Autobahnen fahren kann.“
In diesen Vereinen und Verbänden muss man sich jetzt auf gemeinsame Positionen und Forderungen einigen. Dazu gibt es Versammlungen, die vom Sportverein, bis letztlich in den Bundestag die gleiche Form haben:
- Es muss rechtzeitig (fristgerecht) eingeladen werden, damit alle die Möglichkeit haben, an einer Sitzung teilzunehmen.
- Es werden nur bestimmte Personen eingeladen, bzw. nur bestimmte Personen sind dort stimmberechtigt: Alle, die offiziell Mitglied sind, oder bestimmte, gewählte Delegierte.
- Es gibt eine Tagesordnung, damit alle wissen, um was es geht und zu was Entscheidungen gefällt werden.
- Nur was auf der Tagesordnung steht, kann auch behandelt werden, um niemanden zu überrumpeln.
- Beschlüsse werden schriftlich festgehalten. Sie sind dann die offizielle Meinung des Vereins.
Es gibt nun also diese unterschiedlichen Vereine und die einen beschäftigen sich mit der Geschwindigkeit auf Autobahnen, weil Mitglieder diese Frage aufwerfen. Es wird also diskutiert, ein Antrag so lange formuliert, bis die Mehrheit ihm zustimmt. Dabei wird das Problem konkretisiert. Die Bürgerinitiative zum Beispiel könnte sagen, dass weniger Lärm entsteht, wenn die Autos langsamer führen. Deswegen sollen alle Autos auf allen Straßen außerhalb von Ortschaften nur 80km/h fahren dürfen. Die Sanitäter sagen: Autobahnen sind das vorrangige Problem und dort sollte man nur 120km/h fahren dürfen. Die Autohersteller wollen gar kein Tempolimit – auch nicht auf Bundesstraßen, weil jeder selbst entscheiden könne, wie schnell man vernünftig fahren könne. Am Ende gibt es zum Einen nicht mehr nur diffuse Motivationen und Ideen, sondern ganz konkrete Meinungen und Standpunkte. Und es gibt politische Fragen: Tempolimit? Wie schnell? Wo?
„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit…“ – Art.21, (1) Grundgesetz
Im Parlament kann es nur ein „Dafür“ oder „Dagegen“ geben. Das sind dann die Regierungskoalition und das andere die Opposition. Beide bestehen noch aus 2–3 Fraktionen. Die Parteien bilden somit das Bindeglied zwischen Fraktionen auf der einen Seite und den Vereinen, Verbänden und Bürgerinnen und Bürgern auf der anderen Seite. Während es 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger gibt, gibt es fast 600.000 Vereine in Deutschland. Zur Bundestagswahl sind 34 Parteien angetreten. Im Bundestag sind jetzt fünf Parteien. Voraussichtlich drei werden Regierung und zwei Opposition sein. Auch die Regierung hat sich dann in vielen Fragen schon auf eine gemeinsame Linie geeinigt.
Je weiter man diese Pyramide hinauf schaut, desto weniger frei sind die Personen in ihrem Handeln. Die Mitglieder der Bürgerinitiative verlangen, dass ihre Vorsitzende ihre gemeinsame Meinung und nicht ihre Privatmeinung vertritt. Die Parteimitglieder wollen, dass ihr Vorstand die gemeinsame Meinung vertritt, die Parteien wollen, dass ihre Fraktionen die Beschlüsse umsetzen und die Koalition will, dass die Regierung die Beschlüsse umsetzt. Das führt dann natürlich auch zu diese politischen Sprache, an der sich viele Menschen stören. Deswegen ist es immer mal ganz nett, Politikerinnen oder Politiker privat und über ihre eigenen Motive reden zu hören. Denn in der Regel müssen sie im Namen von tausenden Menschen sprechen. Ein anderer Effekt ist dabei, dass sie auch nicht einfach mitten in einer Debatte die Meinung ändern können.
Ein dritter Effekt ist, dass Parteien oft mit „Lobbyisten“ sprechen – das sind nämlich all die Leute, die für Vereine, Verbände und Unternehmen sprechen. Viele Parteimitglieder sind zusätzlich Mitglied in anderen Organisationen: Beim Naturschutzbund, dem ADAC, einer Gewerkschaft, der Freiwilligen Feuerwehr, der IHK oder anderen Berufsvereinigungen. Und sie bringen in die Parteien diese unterschiedlichen Ideen mit ein. Das ist erst einmal vollkommen okay, solange der Einfluss einzelner Gruppen nicht zu stark wird. Problematisch sind da in gewisser Weise oft Unternehmen, weil die in der Regel nicht demokratisch sind.
„Was denn, bitte, ist wirklich neu oder originell in der Politik? Die große politische Leistung liegt zumeist nicht im Produzieren neuer Ideen, sondern in der beharrlichen Verfolgung und Durchsetzung dessen, was schon lange als vernünftig und notwendig, aber leider als nicht oder kaum durchsetzbar galt.“ – Karl Rickers, Journalist & Sozialdemokrat
In einer Demokratie werden immer solche Willensbildungsprozesse organisiert werden müssen. Es ergibt einfach Sinn, dass man sich zusammentut, um ganz konkrete Projekte zu befördern. Aber es wird auch immer nötig sein, verschiedene Gruppen zu bündeln, um noch mehr Menschen unter einen Hut zu bekommen. Außerdem müssen Inhalte losgelöst von einzelnen Menschen weiterbestehen können – wenn der Vorstand neu gewählt wird, muss der Verein trotzdem weiterhin für die gleiche Sache stehen. Denn ein vierter Effekt ist, dass solche Prozesse oft unglaublich lange dauern: In den 1950er Jahren galt Atomkraft noch als Lösung aller Energiefragen. Anfang der 1970er begann dann ein Umdenken. Mitte der 1970er beschloss zu Beispiel die SPD in Schleswig-Holstein, sich für ein Moratorium einzusetzen, bis die Endlagerung geklärt sei. 1980 wurde mit den Grünen eine Partei gegründet, die den Atomausstieg als Kernforderung hatte. Mitte der 1980er – nach Tschernobyl – beschloss dann auch die Bundes-SPD, sich für den Ausstieg einzusetzen. 1998 gab es zum ersten mal auf Bundesebene eine Mehrheit für eine Regierung, die den Atomausstieg forderte. 2011 – nach Fukushima – hat sich dann auch eine Konservative Regierung für den Atomausstieg entschieden. Und obwohl „Atomkraft – Nein Danke!“ für viele Menschen heute vollkommen selbstverständlich ist, gibt es auch weiterhin Menschen, die das Gegenteil vertreten – sogar bei der Piratenpartei. Und weil das so lange dauert, kann Politik meistens nur hinter Entwicklungen her laufen. (Siehe: Das Moralische Dreieck) Kampagneorganisationen wie Campact kommen dann immer in den letzten vier Wochen, und sammeln die Themen auf, bei denen sich ohnehin schon viele Menschen einig sind.
Die Prozesse dauern so lange, weil Menschen, die Politik nicht hauptberuflich machen, sich nur gelegentlich treffen können, um miteinander zu sprechen, zu diskutieren, sich auf bestimmte Dinge zu einigen. Außerdem brauchen sie länger, um Argumente neu abzuwägen und sich überzeugen zu lassen. Ich glaube deswegen, dass eine komplette Verlagerung der Demokratie in Online-Tools nur bestimmte Probleme lösen: Man muss nicht mehr für alles zur selben Zeit am selben Ort sein. Es gilt aber weiter der menschliche Faktor. Auch weiterhin wird der Mensch seine Zeit brauchen, um sich eine Meinung zu bilden. Und auch weiterhin werden diejenigen, die viel Zeit haben oder jemanden dafür bezahlen können, einen größeren Einfluss haben. Ausgeschlossen werden aber die, die mit der Technik nicht zurecht kommen – die können dann nicht einmal mehr mitreden. Und es wird auch weiterhin ein Vorteil sein, wenn man sich treffen kann. Bisher hat jede Online-Community, in der ich war, irgendwann mal ein Offline-Treffen organisiert, von dem dann auch alle begeistert waren. Der Prozess der Willensbildung ist nicht durchgängig formalisiert und auch nicht formalisierbar. Entsprechend lässt er sich auch nicht in Software gießen. Und ganz transparent kann er auch nicht sein.
Die Abschaffung der 5%-Hürde oder der Fraktionen würde übrigens dazu führen, dass die Diskussionen, die normalerweise eine Stufe unterhalb der Parlamente – in den Parteien – geführt werden, dann ins Parlament verlegt werden. Entscheidungen werden dadurch wesentlich schwieriger. Die 5%-Hürde sorgt dafür, dass sich Parteien anstrengen müssen, mehr unterschiedliche Interessen zu integrieren, bevor kleine Parteien ins Parlament kommen. Ohne 5%-Hürde können sich Parteien viel mehr auf ein bestimmtes Klientel konzentrieren. Regierungen ließen sich extrem schwer bilden. Es ist gut, dass Parteien gezwungen sind, sich mit einer Vielfalt von Meinungen zu beschäftigen und dass dann die Wählerinnen und Wähler ihrerseits gezwungen sind, Kompromisse bei der Wahl zu machen.
Wie auch immer man Demokratie organisiert: Am Ende darf man nicht vergessen, dass man nur einer von 80 Millionen Bürgerinnen und Bürgern ist und nur eine von 80 Millionen Stimmen hat. Man kann seine Stimme dadurch verstärken, dass man sie in einer wichtigen Sache durch einen Verein vertreten lässt. Und man kann sie vervielfachen, wenn man aktiv in einer Partei ist. Aber letztlich wird man sich immer mit 80 Millionen anderen Menschen in Deutschland auf einen Kompromiss einigen müssen. Keine Regierung wird jemals 100% meine Meinung vertreten, keine Partei wird das tun, kein Verein und an manchen Tagen widerspreche ich mir sogar selbst. Damit muss ich leben.
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